Das Leben ist immer interessant!

Von Caroline Fetscher. Wenige Tage nach ihrem 90. Geburtstag im Jahr 2007 fuhr Margarete Mitscherlich-Nielsen zum 45. Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV). Zum ersten Mal seit 1992 fand der Kongress wieder in Berlin statt, er gab sich das naheliegende Motto „Erinnern“. Mitscherlich sprach auf dem Kongress über das „Erinnern, Vergessen und Verdrängen“.

Auf den langen Autoreisen, die Margarete Mitscherlich von Frankfurt am Main über die Alpenpässe bis zu einem kleinen Sommerhaus in den Bergen Norditaliens zurücklegte, nahm sie von Zeit zu Zeit Anhalter mit. Wildfremde Menschen, von denen sie sich als Wegzoll nur eins erbat: Sie möchten ihr auf der Fahrt etwas von sich, von ihrem Leben erzählen.

Was anderen Zeitgenossen lästig ist, blieb noch am Steuer für die Medizinerin, Psychoanalytikerin, Feministin und Autorin Mitscherlich Passion: Zuhören. Kurz und herb, durchaus grimmig, wenn auch mit der ihr eigenen, fast verschmitzt wirkenden Desillusion, machte sie einmal eine Aussage, die gut und gern zum Motto für neunzig Jahre Neugier taugt: „Das Leben ist immer interessant!“ Auch das der aufgelesenen Beifahrer. So kompliziert es sein mag, das Leben, so drastisch der Missbrauch von Macht, das Diskriminieren von Frauen, das Entsetzen angesichts der täglichen Nachrichten, für den politisch engagierten, ja klinischen Blick dieser Forscherin bleibt, es ist „immer interessant“, was bei ihr alles andere ist als eine Phrase. Das Leben fordert heraus zum Denken und Deuten, Rätseln und Aufklären. Zur Haltung dieser dezidiert unfriedfertigen Frau passt nicht das Ertragen, sondern der Wunsch nach Ertrag, nach Erkenntnis.

Daran hat sich bis heute nichts geändert. Auch wenn die elegante Lady heute eine Gehhilfe braucht, ihr Kopf ist frisch. „Ich lese viel, ich denke viel, ich schreibe viel, ich arbeite viel“, beharrte sie vor kurzem. In ihren Bücherregalen stapelt sich die Lektüre kreuz und quer. Auf der grauledernen Couch im Frankfurter Sigmund-Freud- Institut, auf der sie sich einmal selbst als lachende Liegende fotografieren ließ, finden sich weiterhin Woche für Woche Patienten ein. Bei Kolloquien berät die Analytikerin jüngere Kollegen, von Reisen nach Österreich und Italien ist sie vor wenigen Wochen zurückgekehrt. Wenn Ende Juli 3000 Psychoanalytiker aus allen Kontinenten nach Berlin zu einem internationalen Kongress kommen, will sie in der Stadt sein.

Margarete Nielsen kam am 17. Juli 1917 als Tochter eines dänischen Arztes und einer deutschen Lehrerin in Graasten, Gravenstein, in Südostjütland zur Welt, zu Beginn des „kurzen zwanzigsten Jahrhunderts“ mithin, wie Eric Hobsbawm es taufte. Es war der historische Tag, an dem in Russland die Bolschewiki einen Putsch versuchten, woraufhin Lenin nach Finnland floh. In Europa tobte der Erste Weltkrieg, der britische König Georg V. benannte an diesem Tag das Haus Sachsen-Coburg-Gotha aufgrund innenpolitschen Drucks in House of Windsor um. Während sich das deutsch-dänische Mädchen in einem geschützten Winkel des Weltgeschehens zum Teenager entwickelte, bereiteten die Nationalsozialisten den Zweiten Weltkrieg vor.

Im Elternhaus, wo ihre junge Mutter es mehr mit den Deutschen hielt, während der um einiges ältere, dänische Vater vor den Nationalsozialisten warnte, gewann Margarete Nielsen erste Eindrücke von Politik. An der Förde, im nahe gelegenen Flensburg, bestand sie 1937 das deutsche Abitur und zog zum Studium der Literatur und Medizin erst nach München, dann nach Heidelberg, wo sie 1944 ihr Staatsexamen absolvierte. Aus Abscheu vor der NS-Ideologisierung der Geisteswissenschaften war sie zur Medizin gewechselt, „den Körper können sie nicht braun machen“, habe sie sich damals gesagt, „aber natürlich haben sie es auch da versucht.“

Während dieser Jahre war der 1908 in München geborene Mediziner Alexander Mitscherlich, an dessen Seite Margarete später berühmt wurde, ins Visier der Gestapo geraten. In Berlin betrieb er einen Buchladen, der „unerwünschte Literatur“ führte. Zweimal geriet der Student in Haft, flüchtete in die Schweiz, wurde wieder gefasst und beendete sein Studium dann dennoch in Deutschland und ging wieder in die Schweiz. Dort, in der Stadt Ascona am Lago Maggiore, nah am mondänen Intellektuellentreffpunkt Monte Veritá, begegnete Margarete Nielsen 1947 dem inzwischen Psychoanalytiker gewordenen Alexander Mitscherlich.

Mit dreißig Jahren kommt sich die Tochter prüder, lustfeindlicher Eltern noch unerweckt vor, die Rendezvous „unter Palmen“, wie sie mit sachter Ironie im Rückblick sagt, werden sowohl sinnlich als auch intellektuell für sie „zur Erleuchtung.“ Von dem dreifachen Vater und Ehemann bekommt sie 1949 ein uneheliches Kind, promoviert im Jahr darauf in Tübingen und begleitet seine Forschung, während sie sich zugleich neben ihm ihren eigenen Namen schafft.

Deutschlands Analytiker waren restlos aus dem völkermordenden Nazi-Staat vertrieben worden, dem die Psychoanalyse als „jüdische Wissenschaft“ galt. Ein Vierteljahrhundert nach der Zerschlagung der Psychoanalyse durch den Faschismus entstand zunächst an der psychosomatischen Klinik in Heidelberg unter Federführung Alexander Mitscherlichs eine neue, psychoanalytisch orientierte Institution.

In den fünfziger Jahren komplettierte Margarete Mitscherlich in Heidelberg, Stuttgart und London ihre psychoanalytische Ausbildung. Als dann 1960 das Frankfurter Sigmund-Freud-Institut seine Arbeit aufnahm, schrieb Anna Freud von einer einer „new psychoanalytic era in Germany“. Gefördert von Max Horkheimer, warb Alexander Mitscherlich um die Mitarbeit emigrierter Analytiker. Das Sigmund-Freud-Institut widmete sich auch sozialpsychologischen Fragen und ist seit 1995 ist eine Stiftung des Öffentlichen Rechts.

Vor genau vierzig Jahren, 1967, veröffentlichte das Forscherpaar Mitscherlich, nun seit zwölf Jahren verheiratet, seine einflussreiche und bald weltberühmte Studie „Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens“ – nichts mehr und nichts weniger, als die Psychoanalyse einer ganzen Gesellschaft. Die Nachkriegsdeutschen, so die These, leugnen und verdrängen ihre Verantwortung für den Holocaust. Vielfach missverstanden wird der heute sprichwörtliche Titel als Vorwurf, die Deutschen seien unwillig, unfähig, die Ermordeten zu betrauern. Soviel verlangten die Autoren gar nicht. Zur seelischen Genesung der neuen Republik, sagten sie, müsse die Trauer um die eigenen Verfehlungen gehören, um aktive oder passive Teilhabe an der Barbarei. Den Löwenanteil der Arbeit, heißt es, verfasste Margarete Mitscherlich.

Ihr Interesse galt in den Jahren darauf der sich entfaltenden Frauenbewegung, zu ihren Alliierten zählte bald deren Protagonistin Alice Schwarzer. Im Ressentiment gegen Frauenrechtlerinnen erkannte sie eine fatale Kontinuität. „Wie der Jude als betrügerischer Händler und gewissenloser Ausbeuter denunziert wurde, so werden Reaktionen der Frau auf Gewohnheitsunrecht als ,typisch weiblich’ abgestempelt“, schrieb sie 1985, drei Jahre nach dem Tod ihres Mannes, in dem Bestseller „Die friedfertige Frau“. Sie fuhr fort: „Beide, der Antisemit wie der Antifeminist, gehen über die historisch-gesellschaftlichen Verhältnisse hinweg“.

Ob das Verhältnis der Geschlechter eher bestimmt wird durch den Penisneid der Frauen oder den Gebärneid der Männer, wollte sie wissen, ob klitorale oder vaginale Orgasmen den Reifegrad einer weiblichen Persönlichkeit anzeigen, und warum Frauen sich auf Männer fixieren, die sie zugleich verachten und idealisieren. Inspiriert unter anderem von Melanie Klein, die das Verhältnis Mutter-Tochter mehr beschäftigte als Freuds Fragen nach dem Verhältnis Vater-Sohn, widmete sich Mitscherlich in ihren schnörkellosen, nachgerade antipoetischen Essays und Studien der frauenfeindlichen Studentenrevolte.

Sie schrieb über die Fragwürdigkeit der Ehe – „Sklaverei von fünfzig Prozent der Gesellschaft“, sofern sie nicht eine erlaubte Neigungsehe ist – und die verzweifelten, destruktiven Versuchen von karrierelosen Müttern, Defizite in der Ehe über das Kind als Ersatzobjekt zu befriedigen. Ihr Interesse richtet sich weniger auf die akribische Traumdeutung individueller Patienten, Fallberichte schnurren in den Darstellungen, wohl auch aus Diskretion, meist auf Basisstrukturen zusammen. Mitscherlich geht es vielmehr um das analytische Ausloten der gewaltigen, gesellschaftlichen Alpträume unserer Epoche. Wie, so fragt sie, entstehen in einer Gesellschaft narzisstische Neurosen, Grundstörungen, Traumata? Anders als die Hardlinerinnen der Bewegung, die den Mann Freud als „Macho“ abqualifizieren wollten, erklärte Margarete Mitscherlich: „Der Feminismus verdankt Freud, dass die Menschheit erkannt hat, dass auch die Frau eine Sexualität hat.“ Und dass Frauen, so betont sie gern, ebenso aggressiv sein können, ebenso ehrgeizig, ebenso triebgeleitet, aber auch ebenso ethisch wie Männer.

Von Deutschlands erster Kanzlerin, Angela Merkel, zeigt sich die geborene Feministin angetan. Sie wirke besänftigend und bewirke, „dass die Männer freundlicher miteinander umgehen“, außerdem sei sie „sehr fähig zu schweigen, nachzudenken und zuzuhören.“

Caroline Fetscher

Aus © EMMA 5/2007 (Foto: © Bettina Flitner)