Wild Life

Die Psychoanalytikerin und Feministin ist 88 – und nicht zu bremsen. Anmerkungen ihrer langjährigen Freundin Alice Schwarzer anlässlich einer Ehrung in Frankfurt.

Das Goldene Buch im Kaisersaal des ehrwürdigen Römers zu Frankfurt schimmerte, durch die Butzenscheibe leuchtete eine turmhohe Weihnachtstanne und die rund vierhundert Menschen im Saal, in der Mehrheit Frauen, waren einen Moment lang gerührt: Margarete Mitscherlich, die in den 80ern ihren Mädchennamen Nielsen anhängte und seither Mitscherlich-Nielsen heißt, trug sich in eben dieses Goldene Buch der Stadt ein, in der sie seit einem halben Jahrhundert lebt.

Der Akt war der krönende Abschluss der Verleihung des Tony-Sender-Preises durch die Stadträtin Jutta Ebeling, die mit Temperament vorgetragen hatte, wie das Denken und Handeln der Geehrten sie ganz persönlich, die gesamte Studentenbewegung und zahllose Frauen in diesem Lande aufgerüttelt und geprägt habe. Und es schien einen Moment lang, als wolle die Stadträtin anfangen, vom Rednerpult her zu rechten mit der Frau, deren Bücher sie spürbar bis heute so beschäftigen.

Und ich? Ich durfte die Laudatio halten. Anlass genug, eine Zwischenbilanz zu ziehen zum Leben und Werk einer langjährigen persönlichen Freundin und Weggefährtin von EMMA. Ersteres ist Margarete Mitscherlich seit dem Erscheinen meines Buches ‚Der kleine Unterschied’, letzteres seit Erscheinen der ersten EMMA 1977. In der erklärte die renommierte Psychoanalytikerin zu aller Überraschung: „Ich bin Feministin.“ Und sie ging auch gleich in die Vollen mit den Frauen: „Wir Frauen sollten uns davor hüten, uns Illusionen über uns selbst hinzugeben“, schrieb sie in einer Zeit der grassierenden Euphorie. Denn: „Es geht für uns zwar auch, aber nicht nur um die Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen. Von nicht geringerer – vielleicht noch größerer – Bedeutung ist die Auseinandersetzung mit den psychischen Zwängen, das heißt mit der bei den meisten Frauen noch immer ungebrochenen Verinnerlichung ihrer gesellschaftlichen Degradierung.“

Das lasen nicht alle Frauen gerne. Denn das hieße: Nicht nur das böse Patriarchat ist schuld, auch wir selber müssen uns ändern. Und es hörten schon gar nicht alle Feministinnen gerne. Denn so manche hat die Psychoanalyse im Verdacht, Frauen wieder auf Rolle trimmen zu wollen. Vor allem aber stöhnte der ehrwürdige Stand der Psychoanalytiker auf: Wie konnte eine aus ihren Reihen sich gemein machen mit dieser Irrlehre namens Feminismus?

Margarete Mitscherlich hatte sich also mal wieder zwischen alle Stühle gesetzt. Das ist ihr Liebstes. Denn sie ist es von Kindesbeinen an gewohnt.

Als Kind einer geliebten, deutschnational gesinnten Mutter war sie im Vaterland Dänemark eine Fremde – als Kind ihres dänischnational gesinnten Vaters im Mutterland Deutschland nicht minder. Als frei und selbstbewusst aufgewachsener ‚Tomboy’, der alles tun wollte, was auch der ältere Bruder tat, fremdelte sie mit dem Frausein. Als Medizin-Studentin in München stand sie als Nazi-Gegnerin daneben. Als uneheliche Mutter, die den Vater ihres Sohnes erst sechs Jahre nach dessen Geburt heiratete, war sie Ende der 40er Jahre ein Skandal. Als Deutsche, die Anfang der 50er Jahre in London bei den Exilanten die Psychoanalyse lernte, war sie die Andere. Und als Ehefrau des Psychoanalytikers Alexander Mitscherlich, mit dem zusammen sie unter anderem 1967 ‚Die Unfähigkeit zu trauern’ schrieb und damit der deutschen Seele den Spiegel vorhielt, war sie auch irgendwie anders als die anderen Ehefrauen.

Zurück aus London wurde Margarete Mitscherlich zur Schlüsselfigur bei der Ausbildung von PsychoanalytikerInnen in dem Land, in dem die Nazis die Analyse verjagt hatten. Als Leiterin der psychoanalytischen Ausbildung prägte sie Generationen von heute praktizierenden PsychoanalytikerInnen.

Anfang der 70er Jahre ist Margarete mit Alexander ein Jahr lang in Amerika und begegnete dort der Womens Liberation. Sie reagierte schnell. 1972 erschien ihr erstes Buch unter eigenem Namen: ‚Müssen wir hassen?’ – eine Frage, die sie mit: Manchmal Ja! beantwortete. 1977 dann das explizite Bekenntnis: „Ich bin Feministin.“ Von nun an hat Mischerlich die Freiheit, ungeniert die beiden prägendsten Theorien des 20. Jahrhunderts zusammen zu führen: die Psychoanalyse und den Feminismus. „Mein Lebenswerk ist die Beschäftigung mit Emanzipation im weitesten Sinne, das heißt, die Befreiung von Denkeinschränkungen, Vorurteilen, Ideologien“, schreibt sie rückblickend.

Bücher, Auftritte, Engagements (So war sie eine der zehn Klägerinnen in der von EMMA initiierten Stern-Klage gegen die sexistischen Titel des Stern. Und dann 1982 der Schlag: der Gefährte Alexander stirbt. Die Arbeitsteilung zwischen den beiden war klassisch: Er mehr fürs Gesellschaftspsychologische, sie eher fürs Individualpsychologische – beides Hälften eines Ganzen, das das Paar im permanenten Austausch zusammenfügte.

Seinem Tod folgt die Witwenverbrennung, die teils ihr gilt (aber nicht gewagt wurde mit dem Mann an ihrer Seite), teils ihm. Denn auch Alexander Mitscherlich war einer, der es vortrefflich verstand, sich zwischen alle Stühle zu setzen. Schließlich hatte der Mediziner und spätere Gründer des Freud-Institutes es gewagt, schon 1948 ‚Medizin ohne Menschlichkeit’ zu veröffentlichen: eine Abrechnung mit den Ärzten, die sich in den Dienst der Nazis gestellt hatten.

Inzwischen ist Margarete Mitscherlich 88 – schwer zu glauben. Sie hört weiterhin fast täglich den Menschen auf ihrer Couch zu, liest, schreibt, mischt sich ein. Die einzige Einschränkung, die das ewig wilde Mädchen im Alter hinnehmen muss: „Meine Beine tun es nicht mehr so richtig.“ Na, wenn es nur das ist, Margarete!

Aus © EMMA 1/2006 (Foto: © Bettina Flitner)