Von Alice Schwarzer. Das Lachen von Margarete Mitscherlich-Nielsen ist wohl das Charakteristischste an ihrer Person. Ihr Sinn für Humor hat sie hoffentlich nicht verlassen, als sie pünktlich zum 80. Geburtstag ausgerechnet aus der Feder eines jahrzehntelangen engen Mitarbeiters lesen musste, wie peinlich die öffentliche Existenz einer Frau von 80 sei, verbunden wohlmeinenden Rat, endlich „den Rückzug aus der Öffentlichkeit geordnet anzutreten“. Alice Schwarzer, der Jubilarin seit über 20 Jahren politisch und persönlich verbunden, findet ganz im Gegenteil: Die kompetente Stimme einer Margarete war bei zahlreichen inkompetenten Debatten – wie über Goldhagen Wehrmacht-Ausstellung – viel zu selten zu hören!
Am 17. Juli wurde eine Frau 80, die deutsches Denken und Fühlen der Nachkriegszeit entscheidend mitgeprägt hat: Margarete Mitscherlich-Nielsen, Psychoanalytikerin und Essayistin. Der Titel ihres 1967 zusammen mit ihrem Mann Alexander geschriebenen Aufsatzes über ‚Die Unfähigkeit zu trauern‘ wurde zum Synonym für klamme deutsche Befindlichkeit nach Auschwitz. Und noch 30 Jahre später wirft ihre Analyse vom Umschlagen individueller Verdrängung in kollektive Stimmungen ein erhellendes Licht auf Prozesse, wie sie jüngst durch die Goldhagen-Debatte oder die Wehrmachts-Ausstellung ausgelöst wurden. Hinzu kommt: Margarete Mitscherlich ist weltweit eine der ganz wenigen ihres Standes, für die die Abwertung des ‚Anderen‘ selbstverständlich nicht nur im ‚Fremdenhass‘ mündet, sondern auch im Frauenhass: „Rassismus und Sexismus, das sind zwei Seiten einer Medaille.“
Wie kommt es, dass gerade sie anders als die anderen denken und fühlen kann? Die Antwort lautet: Weil auch sie selbst oft die Andere, die Außenseiterin ist.
Das beginnt mit der Geburt. Die Mutter ist Deutsche, der Vater Däne, sie selbst hat bis Anfang der 60er Jahre die dänische Staatsangehörigkeit. Geprägt wird sie von der Liberalität ihres Geburtslandes, auch wenn ihre Sehnsucht schon früh dem von der geliebten und verehrten Mutter so hoch gehaltenen Deutschtum gilt.
Geprägt wird sie auch von der verpassten Anpassung: Die kleine Margarete wird lange von der Mutter unterrichtet und kommt erst mit neun in die Schule. „Da konnte ich mich nur schwer an den Zwang gewöhnen. Das habe ich vielleicht mein Lebtag nicht mehr richtig gelernt.“ Sie wird in der Tat diesen kindlich-anarchistischen Zug nie ganz verlieren.
Der Vater ist Arzt, die Mutter Lehrerin, die Tochter studiert zunächst Literatur, dann Medizin. In Heidelberg. 1938 erlebt sie die „Kristallnacht“. Es wird ihr klar, dass es KZs gibt und dass Menschen vergast werden. „Nur das Ausmaß wussten wir nicht.“ Zaghafte studentische Versuche des Widerstands rufen prompt die Gestapo auf den Plan. „Wir hatten Todesangst.“
1947 begegnet die Ärztin Margarete Nielsen in der Schweiz ihrem Kollegen Alexander Mitscherlich. Sie werden 35 Jahre lang zusammen leben und arbeiten. Doch noch ist Alexander mit einer anderen verheiratet. Ihr gemeinsamer Sohn Mathias kommt 1949 unehelich zur Welt. Ledige Mutter zu sein, das war vor 50 Jahren noch gar nicht komisch. Wieder ist sie die Außenseiterin.
Als Margarete und Alexander sich begegnen, da ist er bereits mit der von den Nazis ins Exil verbannten Psychoanalyse befasst, allerdings vor allem mit deren gesellschaftspolitischer Seite. Ihr Interesse gilt zunächst dem Individuum. „Ich war prädestiniert, Psychoanalytikerin zu werden“, sagt sie rückblickend. Als ihre erste ‚Analysantin‘ nennt sie die eigene Mutter. Schon als Kind ist sie stark damit beschäftigt: „Was denkt sie, was fühlt sie…?“
Eine erste Eigenanalyse macht Margarete Mitscherlich in Deutschland, doch „die wirklich aufklärenden und erhellenden Seiten der Analyse habe ich erst in London kennengelernt“. Da trifft sie Anfang der 50er Jahre auf die aus Wien und Berlin Verjagten und macht eine zweite Analyse, diesmal bei Baiint.
Zurück in Deutschland ist sie voller Tatendrang. Sie bildet aus und schreibt (mit), allerdings lange unter dem gemeinsamen Signet „Alexander Mitscherlich“. An der von ihm gegründeten psychosomatischen Klinik in Heidelberg leitet sie die Ausbildung der Nach-Hitler-Generation deutscher Psychoanalytikerinnen ebenso, wie später an dem von beiden initiierten Freud-Institut in Frankfurt.
Während der Studentenrevolte der 68er Jahre gehören die Mitscherlichs, zusammen mit Marcuse und den Philosophen der Frankfurter Schule, zu den geistigen Vätern der revoltierenden Jugend. Geistige Mütter gibt es nicht. Die Frau an Alexanders Seite ist zwar innerhalb der Psychoanalyse präsent, in der Öffentlichkeit jedoch weitgehend unbekannt.
Das ändert sich schlagartig, als sie – angeregt durch ein Jahr in Amerika und den Kontakt mit dem Women’s Liberation Movement – 1972 ihr erstes allein gezeichnetes Buch veröffentlicht: ‚Müssen wir hassen?‘ Zum Aha-Erlebnis der Psychoanalyse kommt nun das Aha-Erlebnis des Feminismus. Die Freudianerin scheut sich nicht länger, Freuds „Phallozentrismus“ zu kritisieren. Und sie warnt vor einer lebensfeindlichen Verschulung der Psychoanalyse ebenso wie vor der Möglichkeit des Machtmissbrauchs durch den Analytiker.
Seither wird sie geliebt und gehasst zugleich. Auch für den eigenen Mann war die zunehmende Eigenständigkeit seiner temperamentvollen Frau nicht immer einfach, denn Prof. Mitscherlich war „ganz selbstverständlich immer die Hauptperson“.
1977 verschärft sich Margarete Mitscherlichs Profil, als sie öffentlich erklärt: „Ich bin Feministin“ – und das ausgerechnet in der ersten EMMA und in einem Land, in dem der Feminismus bis heute ein Schimpfwort ist. Wieder ist sie die Außenseiterin.
1982 stirbt Alexander Mitscherlich. Der gewohnte Schutz des Mannes an ihrer Seite entfällt – und schon geht die Witwenhatz los. Das bleibt einer Margarete Mitscherlich so wenig erspart wie einer Simone de Beauvoir.
Doch manchmal wird der strafende Liebesentzug gerade dieser Frau – die das bis dahin so gar nicht gewohnt war – wohl zu viel. Durchaus auch aus eigener Betroffenheit untersucht sie 1985 den Grund für die angeblich „weibliche Friedfertigkeit“: nämlich die Angst der Frauen vor diesem Liebesverlust.
Bei aller, nicht ausbleibenden, Ernüchterung über die Menschen und auch den eigenen Berufsstand ist es weiterhin das Tagesgeschäft von Margarete Mitscherlich, Menschen und Verhältnisse begreifen, erklären und verändern zu wollen. So erscheint 1990 ihr Band mit dem beziehungsreichen Titel ‚Über die Mühsal der Emanzipation‘, und in der von ihr herausgegebenen ‚Psyche‘ veröffentlicht sie regelmäßig. Es interessiert sie eben wirklich, „welche Auswirkungen Männlichkeits- und Weiblichkeitswahn auf unser Leben und auf die Politik hat“. Ihr scheint beides gleich bekämpfenswert: „das Herrenmenschentum der Nazis ebenso wie das Herrenmenschentum der Machos“.
Beide Arten von Herrenmenschentum belasten auch ihr Leben – doch zeigt sie, dass es möglich ist, darüber hinaus zu gehen. „Erziehung ist eines“, sagt die Psychoanalytikerin. „Aber das, was ein Mensch letztendlich daraus macht, ist ein anderes.“
Alice Schwarzer
Aus © EMMA 5/1997