Die Notwendigkeit zu trauern

Die nationalsozialistische Vergangenheit liegt nach wie vor wie Mehltau auf diesem Lande. Es kann meines Erachtens keine Rede davon sein, daß sie wirklich tiefergehend bewältigt wurde – sofern millionenfacher Mord denn überhaupt zu bewältigen ist. Man sollte auch nicht für Sachlichkeit – im Sinne der Gefühlsdistanzierung – plädieren, sondern dafür, daß die innere und äußere Auseinandersetzung mit dem, was unter Hitler geschah, weitergeht oder erst wirklich beginnt. Eine scheinbare Versachlichung der Vergangenheit kann nur zu einer erneuten Verdrängung unserer gefühlsmäßigen Beteiligung an ihr führen.

Um die Fähigkeit zu trauern zu entwickeln, ist eine besondere Art der Erinnerungsarbeit notwendig, die die Wiederbelebung unserer damaligen Verhaltensweisen, unserer Gefühle und Phantasien einschließt. Es gilt herauszufinden, warum Hitler einen so unglaublichen Einfluß auf uns, die meisten Deutschen, auszuüben und unser Gewissen seinen falschen Idealen entsprechend zu pervertieren vermochte.

Seitdem wir (Anm. d. Red.: Alexander und Margarete Mitscherlich) das Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ geschrieben haben, hat sich manches im politischen Bild Deutschlands geändert. Ob das allerdings die kollektive Einstellung zum unbewältigten Kern der Vergangenheit einschließt, muß in Frage gestellt werden, denn die Durcharbeitung dessen, was zum Nationalsozialismus führte, ist – soweit es die Beteiligung des einzelnen daran, seine seelisch-geistigen Identifikationen mit dieser Zeit betrifft – noch nicht geleistet worden. Das hat das Beispiel Filbinger vor kurzem jedem deutlich gemacht. Auch die heute Zwanzigjährigen, an die die Eltern ihre Abwehr gegen die Vergangenheit weitergegeben haben, leben immer noch im Schatten der Verleugnung und Verdrängung von Ereignissen, die wir nicht ungeschehen machen können.

Trauer ist ein seelischer Vorgang, in dem ein Individuum einen Verlust mit Hilfe eines immer wiederholten, schmerzlichen Erinnerungsprozesses langsam zu ertragen und durchzuarbeiten lernt, um danach zu einer Wiederaufnahme lebendiger Beziehungen zu den Menschen und Dingen seiner Umgebung fähig zu werden.

Zwischen der Abspaltung der Gefühlsbeteiligung gegenüber den Erinnerungen der Vergangenheit einerseits und dem sozialen und geistigen Immobilismus in unserem Lande andererseits besteht ein Zusammenhang – das war unsere These in dem Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“. Aus Deutschland ist ein im wesentlichen dem Konsum zugewandtes Wirtschaftsland geworden, das mit der gefühlsmäßigen Verleugnung seiner nationalsozialistischen Vergangenheit auch die Beziehung zu Traditionen, Werten, geistigen Möglichkeiten des vorhitlerischen Deutschland mehr oder weniger verloren hat.

Es ist bekannt, daß die falschen und pervertierten Ideale der Hitlerzeit auf manchen wohlangesehenen Traditionen, Idealen und typischen Verhaltensweisen der autoritätsgläubigen deutschen Gesellschaft fußten, in der das Gehorsamsideal bindend war. Je stärker der Zwang zum Gehorsam, umso heftiger ist die untergründige Aggression, die aber auf Grund der Strafangst und mit Hilfe von Idealisierungen der Autorität abgewehrt wurde. Das ist einer der Gründe, warum in Deutschland Idealisierung und Aggression besonders haltbar miteinander verbunden sind. Die totale Abwehr der Vergangenheit hindert uns aber sowohl daran, die falschen von den erinnerungswürdigen Werten und Idealen unterscheiden zu lernen, als auch, ihren Zusammenhang und ihre Wirkung auf die Gegenwart erkennen zu können.

In einem kürzlich erschienenen Buch von J. Becker wurden die Terroristen als die „Kinder Hitlers“ bezeichnet. So einfach ist dieses weltweite Problem wahrscheinlich nicht zu lösen, aber etwas Wahres ist doch dran. Denn das Defizit an Idealen der Jugend in Deutschland und das gleichzeitige Bedürfnis danach und die damit verbundene Gefahr weiterer unglücklicher Idealisierungen ist unübersehbar. Ohne Ideale lebt es sich aber offenbar schlecht. Der Aufbau eines Selbstwertgefühls ist  von dem Besitz von Idealen und der Möglichkeit ihrer Verwirklichung weitgehend abhängig.

Wenn man seinem Leben kein Ziel setzen und ihm keinen Sinn zu geben vermag, breitet sich das Gefühl der Leere und Hoffnungslosigkeit aus. Um dem zu entgehen, werden oft Führer oder Ideale zweifelhafter Art gesucht, deren Ziele nicht in Frage gestellt und deswegen rücksichtslos verfolgt werden. Indem man sich mit Hilfe des gleichen Führers, der gleichen Ideale und Ziele einer Gruppe zugehörig fühlen    kann, läßt sich das Selbstachtungsdefizit durch gegenseitige Idealisierung weitgehend beheben.

Man zahlt dafür mit erheblichen Denkeinschränkungen und oft mit Gewissensverdrehungen. Abweichungen von den in der Gruppe herrschenden Meinungen und Idealen werden nicht geduldet oder grausam bestraft. Das alles ist bekannt. Wir haben es unter Hitler erfahren, in verwandelter Form aber auch bei den Terroristen oder bei manchen Sektenbildungen. Das wurde uns kürzlich durch die tragischen Ereignisse in Guayana erneut vor Augen geführt.

Idealismus, Idealisierung und Utopien können aber verschiedenen – negativen wie positiven – Zwecken dienen. Im Namen von Idealen können, wie wir es im Dritten Reich erlebten, unvorstellbare Grausamkeiten begangen werden. Utopien und Illusionen verbinden sich mit Selbsttäuschungen und Realitätsverkennungen. Dennoch wäre es auf Grund solcher schlechten Erfahrungen sinnlos, das Kind mit dem Bade auszuschütten und auf die seelischen und kulturellen Möglichkeiten zu verzichten, die sich mit Phantasien, Idealen und Utopien in einer langen Geschichte und im Leben des einzelnen, insbesondere in der Entwicklung des Jugendlichen, verbinden. Diese Gefahr besteht aber, wenn mit der gefühlsmäßigen Abwehr der jüngsten Vergangenheit auch eine auf Phantasie und Innerlichkeit beruhende deutsche Tradition vergessen und verdrängt wird.

Die meisten Menschen unseres Landes sind gegenwärtig allerdings vorwiegend an  Technik und Wirtschaft und der davon abhängigen ökonomischen Sicherheit interessiert. Das kann man gewiß niemandem zum Vorwurf machen, schon gar nicht in einer Zeit, in der die Arbeitslosigkeit zunimmt und in der sich die Chancen für eine gesicherte berufliche Zukunft für alle jungen Menschen verschlechtert.

Wer in der Wirtschaft und Ökonomie Erfolg hat, ist sich seiner politischen und gesellschaftlichen Karriere sicher. Die wenigsten verlangt es dann danach, sich mit den Manipulationen auseinanderzusetzen, denen ihre Wertvorstellungen dauernd unterworfen werden. Statt einer politischen und geistigen Durcharbeitung der Vergangenheit und dem Suchen nach neuen Ideen, Idealen, Konzepten für die lebendige geistige Struktur der Bundesrepublik vollzog sich die explosive Entwicklung der deutschen Wirtschaft.

Wenn hier von „bewältigen“ der Vergangenheit in der Gegenwart die Rede ist, dann ist damit eine Folge von Erkenntnissehritte gemeint, die aufgrund von Erinnern, gefühlsmäßigem Wiederholen und Durcharbeiten dieser Vergangenheit Aufklärung darüber schafft, wie der Sprung von gestern ins Heute zustande gekommen ist und welchen Preis wir für den wirtschaftlichen Aufschwung unseres Landes gezahlt

haben. Vom Volk der Auserwählten, das seine irrationalen Größenphantasien, seine Autoritätshörigkeit und den damit in Zusammenhang stehenden untergründigen Rivalitäts- und Vaterhaß verschob und auslebte, sind wir zum Volk der wirtschaftlich Erfolgreichen geworden, das nur noch Fakten gelten lassen will und in dem Phantasien und Utopien, aber auch Schuldgefühle keinen Platz mehr haben

sollen. Deswegen wird auch die Tatsache des Elends der Dritten Welt, von deren billigen Arbeitskräften und Rohstoffen unser Wohlstand weitgehend abhängt, möglichst verdrängt.

Um nach dem Untergang des Hitler-Reiches die Angst, die Schuld und die Scham zu vermeiden, wurden also seelische Abwehrvorgänge von der Art der Verdrängung, der Verleugnung, der Projektion wie zum Beispiel: „nicht die anderen, sondern wir waren die unschuldigen Opfer“ etc. eingesetzt. Denn wenn überhaupt Erinnerung, dann meist als Aufrechnung der eigenen gegen die Schuld der anderen. Die bedauernswertesten Opfer waren dann im Grunde wir selber.

Mit Hilfe der Dehumanisierung – vor allem der Juden, später auch der Polen und Russen – gelang es, das Gewissen der Deutschen umzudrehen. Der Mord an Millionen schutzlos Verfolgter läßt sich keineswegs wie selbstverständlich auf Vorgesetzte, schließlich auf den Führer selbst verschieben. Daß es dazu kommen konnte, setzt sich faktisch aus sehr vielen schuldhaften Entscheidungen und Handlungen einzelner zusammen. Man braucht sich nur daran zu erinnern, wie die große Masse der Deutschen zusah oder daran teilnahm, wie die Juden diffamiert und zu Untermenschen erklärt wurden. Ohne diese Teilnahme und Übereinstimmung der Bevölkerung mit diesem Urteil über die Juden wäre der schließlich erfolgte Massenmord nicht möglich gewesen.

Auch um Hitler, der von der Masse der Deutschen doch so sehr geliebte Führer, wurde bekanntlich nicht getrauert. Mit Hilfe der Projektion: „Er war an allem schuld“, gelang sehr schnell der Rückzug von bisherigen sehr starken Gefühlen. Als Anlaß zur Trauer sollte aber nicht nur der Tod Hitlers als realer Person angesehen werden, sondern vielmehr der Verlust dessen, was er repräsentierte: das kollektive Ich-Ideal. Sein Tod, seine Niederlage und seine Entwertung durch die Sieger bedeuteten den Verlust eines narzißtischen Selbst-Objektes, das heißt, eine Verarmung und Entwertung des eigenen Selbst. Die Vermeidung dieses Traumas muß als unmittelbarster Anlaß der Entwirklichung und Verleugnung des Hitler-Reiches nach dem Kriege angesehen werden.

Die siegreichen Gegner konnten ohne Entwertungsgefühle um die Opfer dieses Krieges trauern, die Deutschen dagegen waren zunächst zentral in ihrem Selbstwert getroffen und wehrten offenbar mit aller Kraft das Erlebnis einer melancholischen oder depressiven Verarmung des Selbst und den ihm entsprechenden seelischen Zusammenbruch ab. Denn zwischen Trauer und Melancholie besteht ein wesentlicher Unterschied: In der Trauer um ein geliebtes Wesen fühle ich mich zunächst verarmt, aber nicht meines Selbstwertes beraubt. Das aber ist die Erfahrung des Melancholikers. Um dieses unerträgliche Gefühl zu vermeiden, wurde zunächst möglichst alles verdrängt, was mit der eigenen Anteilnahme an den Geschehnissen des Dritten Reiches zu tun hatte.

Aber Abwehr kollektiv entstandener Schuld und der damit verbundenen Gewissensqualen oder Melancholie ist offenbar leicht, wenn sie wiederum im Kollektiv geschehen kann. Anstelle der trauernden Auseinandersetzung und um depressive Ängste zu  vermeiden, reagierten wir offenbar mit manischer Überaktivität und ausschließlicher Konzentration auf das Geschehen und den Erfolg in der äußeren Welt.

Solange wir jedoch die direkte oder indirekte Beteiligung an den unbeschreiblich grausam ausgeführten Massenverbrechen nicht wirklich zur Kenntnis nehmen wollen, wirkt sich das nicht nur auf unser Geistesleben aus, sondern verhindert auch eine emotionell getragene Aussöhnung mit unseren ehemaligen Gegnern, auch dann, wenn uns politische und militärische Bündnisse und Handelsbeziehungen mit ihnen verbinden. Die in Deutschland so gern als Erklärung benützte Neidtheorie – wann immer Kritik an uns geäußert wird – kann deswegen einer solchen tiefergehenden Aussöhnung nur im Wege stehen.

Nach dem Kriege richteten wir bekanntlich unser schwer gestörtes Selbstwertgefühl wieder auf, indem wir uns mit den idealisierten politischen Vormündern in Ost und West in oft übertriebener Weise identifizierten. In der Bundesrepublik waren es nach der Niederlage Hitlers vor allem die USA, die als Vorbild galten. Die Überangepaßtheit und scheinbare politische Apathie der Jugendlichen in den 50er- Jähren läßt sich wohl nicht nur als Folge des überwältigenden Verlustes ideeller Werte und der gleichzeitigen Verleugnungsarbeit diesem Verlust gegenüber verstehen, sie war auch Ausdruck der neu vorgenommenen Idealisierungen der westlichen Welt und des festen Glaubens an die Verwirklichung demokratischer und sozialer Ideale durch sie.

Erst das Beispiel des Vietnam-Krieges, dessen Problematik die ältere Generation nicht wahrzunehmen bereit war, ließ die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit unüberschaubar werden. Das führte im Laufe der 60er Jahre zu einer Politisierung der Jugend mit zunehmend kritischer Einstellung zu den bisher idealisierten politischen Vorgängen im eigenen Land und in der westlichen Welt. Es kam dabei zu schwierigen und oft tiefgreifenden Auseinandersetzungen mit großen Teilen der älteren Generation, die sich dadurch in ihrem mühsam wiederaufgebauten Selbstwertgefühl zentral angegriffen fühlte.

Je starrer die Abwehrhaltung gegen die Durcharbeitung der Vergangenheit ist, umso leichter ist dann das auf Verleugnung aufgebaute neue Selbstwertgefühl zu lädieren. Um Kritik auszuhalten, muß die Selbstachtung eines Menschen einigermaßen gut fundiert sein.

Mehrt oder mindert sich nun seither in der Bundesrepublik die Toleranz, abweichende Meinungen zu ertragen, insbesondere solche, die die gängigen Wertvorstellungen und das Selbstbild der Deutschen in Frage stellen? Die allgemeine Reaktion auf das Bekanntwerden der Massenmorde in den Konzentrationslagern war, wie wir wissen, schwach oder von Abwehr bestimmt. Bis heute interessieren sich nur wenige für die Prozesse, die sich mit den an den Morden Beteiligten befassen. Dagegen gab es auf die Aktionen der Terroristen in Deutschland eine ganz andere Reaktion. Hier wurde uneingeschränkte Verfolgung und Verurteilung jedes einzelnen mit aller Härte gefordert. Die gesamte deutsche Öffentlichkeit beteiligte sich mit starkem Affekt an der Verurteilung der Terroristen, wobei deren sinnlose und grausame Morde hier gewiß nicht verharmlost werden sollen.

Dennoch: Verglichen mit den schwachen Reaktionen auf Massenmorde unvorstellbar grausamer Natur fallen die oft an Hysterie grenzenden Reaktionen auf die Handlungen einiger weniger ins Abseits geratener Aktivisten besonders ins Auge. Sie genügten, um die Demokratie, deren Grundlage nach wie vor die Meinungs- und Gedankenfreiheit ist, erneut großen Gefahren auszusetzen.

Ganz anders als über diejenigen, die sich an Hitlers Untaten beteiligt hatten, oder gar über seine Mitläufer, erregte man sich jetzt über die sogenannten „Sympathisanten“. Wer nur zu verstehen oder zu erklären versuchte, was die Terroristen zu ihrem Verhalten oder zu ihren unsinnigen Taten trieb, galt als verfolgungswürdig, und mancher, der je die bestehenden Wertvorstellungen und die ihnen entsprechenden politischen Handlungsweisen einer Kritik zu unterziehen gewagt hatte, wurde als geistiger Urheber der „Terrorszene“ denunziert (so auch Alexander Mitscherlich und ich).

Das alles zeigt meines Erachtens, daß der psychologische Immobilismus als Folge der Unfähigkeit zu trauern sich bis heute vor allem darin offenbart, daß die meisten Deutschen nicht gewillt sind, das Auseinanderfallen von Ideal und Wirklichkeit im eigenen Lande auch nur wahrzunehmen. Entsprechend zeigen manche eine Neigung, denjenigen, der sie darauf aufmerksam macht, als einen Feind anzusehen, den es von der Gesellschaft auszuschließen gilt. Die Unfähigkeit, Kritik zu ertragen, hängt natürlich mit der Labilität des Selbstwertgefühls der Deutschen eng zusammen.

Die Möglichkeit eines kreativen geistigen Neubeginns, der an geschichtliche und kulturelle Erfahrungen und Traditionen sowohl anzuknüpfen als auch kritisch damit umzugehen vermag, wird also mit davon abhängig sein, ob eine gefühlsmäßige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zustande kommen kann.

Margarete Mitscherlich-Nielsen

Aus © EMMA 3/1979