Müssen wir unsere Mütter hassen?

In der Frauenbewegung stellte in den letzten Jahren die Beziehung zwischen Mutter und Tochter ein oft diskutiertes Thema dar. Zunehmend wurde die Mutter als hemmender Faktor für die Befreiung der Tochter von Rollenzwängen gesehen. Die Mutter, so hieß es, entließe die Tochter nicht aus der Abhängigkeit von ihr, verbiete der Tochter die Verfügung über den eigenen Körper, über die Sexualität, die diese deswegen nur schuldbewußt oder aufopfernd erleben könne. „Das Vermächtnis der Mütter ist die Kapitulation“, so schreibt Phyllis Chesler.

Sie behindere die Entwicklung der Tochter zur Selbständigkeit. Die Tochter könne sich von der Mutter nicht lösen, weil diese ihr nicht erlaube, die frühkindliche Abhängigkeit von ihr aufzugeben, ohne unter Schuldgefühlen und Verlassenheitsängsten zu leiden.

Aufgrund solcher Vorstellungen wird die Mutter zur Hauptschuldigen für die Fehlentwicklungen ihrer Kinder gemacht. Die Emanzipation der Frau, so heißt es dann, wird noch mehr durch die Mütter als durch die von Männern beherrschte Gesellschaft behindert. Auch nach den Theorien vieler Psychoanalytiker (Chasseguet-Smirgel, Horney, Klein, Zilboorg etc.) stellt der sogenannte „Männerhaß“ der Frauen nur eine Abwehr des ursprünglichen Hasses auf die allmächtige Mutter dar, die einen aus der Abhängigkeit nicht altersentsprechend entläßt und dem kleinen Mädchen die autonome Lustbefriedigung, die Masturbation, verbietet.

Jeder Haß – der Frauenhaß der Männer wie der Männerhaß der Frauen – ist für diese Theoretiker letztlich nichts anderes als Haß auf die Mutter und deren Macht über das hilflose Kind. Gesellschaftliche Wertvorstellungen, unbewußte und bewußte Phantasien, die geschlechtsspezifische Erziehung sowie spätere Einflüsse und seelische Verletzungen bleiben in ihrer Wirkung weitgehend unberücksichtigt.

Diese Tendenz zum „nichts-als“, mit der die Mutter zur Alleinschuldigen für alles Übel gemacht wird, hemmt das Denken und die Fähigkeit, die vielfältigen Einflüsse zu erkennen, die das menschliche Verhalten im allgemeinen und die Entwicklung der Frau im besonderen prägen.

Viele Frauen, die selber Mutter sind, fühlen sich von der Frauenbewegung angezogen und möchten in ihr Verständnis für ihre Schwierigkeiten finden. Durch deren negative Haltung ihnen gegenüber fühlen sie sich aber zu Frauen zweiter Klasse degradiert und darüber hinaus ihren Problemen wieder allein überlassen. Wenn der Frau als Mutter bei ihrer Selbstbefreiung nicht geholfen wird, wird sie in ihrer Hilflosigkeit ihre Kinder weiterhin so erziehen, wie es ihr selber beigebracht wurde. Das heißt, sie stößt ihre Töchter in die gleichen Rollenzwänge, denen sie selber ausgesetzt war. Die nächste Generation von Töchtern muß dann wiederum versuchen, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf falscher Ideale und Erziehungsnormen herauszuziehen.

Es gilt also herauszufinden, warum der Slogan „Allmacht der Mutter – Ohnmacht der Frauen“ eine solche Wirkung auf viele Frauen gehabt hat. Denn logischerweise sind Mütter auch Frauen und müssen, wenn Frauen ohnmächtig sind, als Frauen das gleiche Schicksal erleiden und dafür auf Verständnis bei ihren Geschlechtsgenossinnen hoffen dürfen.

Auf die psychoanalytischen Theorien über die Mutter-Kind-Einheit und über die weibliche Entwicklung werde ich noch ausführlich eingehen. Zunächst möchte ich darauf hinweisen, daß es zwei Dinge zu beachten gilt: die psychische Wirklichkeit eines Menschen und seine unmittelbare äußere Wirklichkeit. Mit anderen Worten: Wenn auch die Mutter im Erleben ihrer Kinder und natürlich auch in der Realität viel Macht über sie hat, weil diese von ihr sehr abhängig sind, so ist sie doch, was ihre Stellung in Familie und Gesellschaft betrifft, weitgehend machtlos.

Wir alle wissen, wie häufig eine Mutter ihre Kinder vergeblich gegen die Übergriffe oder Einfühlungslosigkeiten des Vaters und später der Autoritäten in der Schule zu schützen versucht. Immer wieder muß sie das Kind, ob sie will oder nicht, zur Anpassung an eine mehr oder weniger kinderfeindliche Umgebung anspornen. Wie schwer die Situation für eine Mutter ist, die sich ihrer Umgebung gegenüber durchzusetzen versucht, um ihrem Kind größere Kränkungen zu ersparen, wird oft übersehen.

Daß der mütterliche Schutz des Kindes nie vollständig ist, daß die Mutter das Kind aufgrund seiner und ihrer Schwächen zur Anpassung zwingt, ist dann wiederum der Anlaß dafür, daß viele Kinder ihre Mütter mit zunehmender Selbständigkeit zu hassen beginnen. Das trifft aber für beide Geschlechter zu und keineswegs nur für Töchter. Die Mutter ist also in der äußeren Realität oft machtlos – was ihr ihre Kinder deswegen besonders übelnehmen, da sie in deren Augen, das heißt in der psychischen Realität mächtig bis allmächtig zu sein scheint, je nach dem Grad der Abhängigkeit des Kindes ihr gegenüber.

Die Intensivierung der Frauenbewegung in den 60er Jahren brachte in der Psychoanalyse von neuem eine Diskussion in Gang, die in den 20er Jahren ihren Anfang genommen hatte und in den 30er Jahren, in denen die Frauenbewegung eine untergeordnete Rolle spielte, letztlich ohne Klärung der Standpunkte im Sande verlief. Heute stößt die Psychoanalyse und ihre Theorien bei vielen Feministinnen auf Widerstand. Neben einer teilweise berechtigten Kritik an psychoanalytischen Vorstellungen von der weiblichen Entwicklung basiert diese Ablehnung der Psychoanalyse aber auch auf einer Verleugnung unbewußter psychischer Vorgänge in der Frauenbewegung, die oft in einer rein rationalen und entsprechend oberflächlichen Diskussion über die Psychologie der Frau steckenbleibt. Denn frühkindliche Phantasien und kindliche Identifikationsschicksale haben nun einmal, ob man es wahrhaben will oder nicht, einen wesentlichen Einfluß auf die späteren Verhaltensweisen der Frau. Die kindlichen Phantasien von der Allmacht der Mutter bleiben dann bis ins Erwachsenenalter bestehen und erzeugen Angst, Unselbständigkeit und Haß. Als bahnbrechend muß deswegen Freuds Entdeckung angesehen werden, daß nicht nur die äußeren Ereignisse und Erlebnisse sich in der Psyche des Menschen niederschlagen, sondern daß durch Phantasien äußere Ereignisse uminterpretiert werden und dadurch eine neue psychische Wirklichkeit schaffen, die ihrerseits wiederum auf die äußere Wirklichkeit einwirkt und sie verändert.

So ist zum Beispiel die Beziehung der Tochter zu ihrer Mutter von Phantasien geprägt und hat nur partiell etwas mit dem realen Verhalten der Mutter zu tun. Es geht deswegen darum, die Mischung von objektiven Ereignissen und deren subjektiver psychischer Erlebnisweise genauer verstehen und darstellen zu können. Das objektive Verhalten der Mutter, ihre faktisch oft erhebliche Machtlosigkeit, wird von der völlig von ihr abhängigen Tochter nicht wahrgenommen oder nicht selten in ihr Gegenteil verkehrt.

Ohne mühevolle Durcharbeitung und Bewußtmachung solcher Mißverständnisse zwischen Mutter und Tochter, die bereits zur Tradition geworden sind, läßt sich diese in ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Frau einzigartige Beziehung kaum verbessern oder klären!

Wenn das Kind zu abhängig von der Mutter ist, das heißt, die Erziehung in den frühen Kinderjahren allzu ausschließlich einer Person, der Mutter, überlassen wird, oder die Mutter dies auch als Kompensation benötigt, entwickelt das Kind besonders das Gefühl, von der Mutter nicht losgelassen und von ihr beherrscht zu werden.

In einer Gesellschaft, in der die Kleinfamilie die zentrale Rolle spielt und in der der Mutter Schuldgefühle gemacht werden, wenn sie berufstätig ist und ihr Kind stundenweise anderen Frauen oder Kindertagesstätten überläßt, und der Vater sich nicht entsprechend an der frühen Erziehung beteiligt, wird die übermäßige Abhängigkeit der Tochter von der Mutter kaum altersgemäß zu lösen sein. Die Folge ist dann die häufig beschriebene Unselbständigkeit der Tochter, die dann zur Frau wird oder deren Haßgefühle auf die Mutter. Aus der faktischen Abhängigkeit hat sich die nicht mehr altersentsprechende psychologische Abhängigkeit gebildet.

Darüber hinaus wird die Tochter aufgrund der herrschenden Wertnormen dazu  angehalten, sich mit der Mutter und deren Verhaltensweisen zu identifizieren, wohingegen der Sohn relativ frühzeitig zu einer Loslösung von der allzu abhängigen Beziehung zur Mutter angehalten wird. Damit geht allerdings einher, daß er später mehr als die Frau dazu neigt, Gefühle überhaupt zu verleugnen und zu verdrängen, und daß seine Selbständigkeit weitgehend eine Abwehr mitmenschlicher Beziehungen in sich schließt.

Wenn aber die Beziehung zwischen Mutter und Tochter als unheilvoll bezeichnet wird, weil in ihr entweder eine Überidentifikation der Tochter mit der Mutter zustande kommt oder aber Haß und Abwendung von ihr, so darf doch andererseits nicht übersehen werden, daß auch die Beziehung zwischen Mutter und Sohn von erheblicher Feindseligkeit beherrscht sein kann. Solange also ausschließlich die Mutter für die Erziehung des Kleinkindes zuständig ist, bleibt es unausweichlich, daß das Kind eine zu große Abhängigkeit von ihr entwickelt, die niemals entsprechend befriedigt werden kann oder ausgenutzt wird und dementsprechend Haß erzeugt.

Dieser Haß auf die „allmächtige“ erlebte Mutter, ohne deren Zuwendung man sich als kleines Kind verloren fühlt, löst dann wiederum Angst oder Schuldgefühle aus.

Der Knabe, der zur Trennung von der abhängigen Beziehung zur Mutter mehr oder weniger gezwungen wird, gibt die Identifikation mit ihr allzu früh auf und schadet damit der Reifung seiner Gefühlswelt. Das kann allerdings untergründig zu noch größerer Abhängigkeit von der Mutter führen, als sie das Mädchen erlebt, denn die langsamen Verinnerlichungen mütterlicher hilfeund trostspendender Funktionen und Verhaltensweisen dienen der Selbständigkeit eines Kindes.

Es lernt dann langsam seine Bedürfnisse selbst zu befriedigen und seine Ängste selber zu mildern.

Das Recht des kleinen Kindes auf Anklammerung an seine Liebesobjekte in den verschiedenen Phasen seiner Entwicklung sollte nicht weniger ernst genommen werden als das Recht des größeren Kindes und Jugendlichen auf Ablösung von der Mutter und schließlich der Familie. Auch das Recht des Kindes auf ein entsprechendes Ausmaß an autoerotischer Befriedigung bleibt oft unbeachtet. Dem Knaben wird es von der Mutter oft eher zugestanden als dem Mädchen. Von Psychoanalytikern wurde darauf hingewiesen, daß auch das Verbot der Lust am eigenen Körper, der Haß der Mutter gegenüber schürt, in dessen Folge Angstgefühle und erneute Anklammerung auftreten, da das Kind die Zuwendung der Mutter nicht entbehren kann.

Die mütterliche Ablehnung der Sexualität ihrer Tochter ist sicher nicht nur ein Produkt der Phantasie der Tochter, sondern oft Wirklichkeit. Die sexualfeindliche Haltung der Mutter entspringt den eigenen Ängsten, die aus der eigenen Erziehung stammen. Dennoch: auf Grund seiner Ängste phantasiert das Kind auch mütterliche Verbote, weil mit der Sexualität eine Abwendung von der Mutter und eine Zuwendung zum Vater verbunden ist. Die phantasierten Verbote der Mutter haben dann ihren Ursprung in einer unüberwundenen Abhängigkeit des Kindes, in der seine Selbständigkeitsstrebungen auch sexueller Art unerträgliche Angstzustände hervorrufen.

In der Tat neigt die Mutter aber dazu, in der Tochter mehr noch als im Sohn einen Teil des eigenen Selbst zu sehen, was dazu führt, deren Eigenart und individuellen Bedürfnisse ungenügend wahrzunehmen. Oder aber die Mutter sieht in der Tochter abgelehnte Teile ihrer selbst, die sie dann in der Tochter bekämpft.

Je mehr aber erkannt wurde, in welchem Ausmaß Erziehung, Phantasie als auch Wertvorstellungen der Eltern auf die psychosexuelle Entwicklung des Kindes Einfluß nehmen, um so mehr trat die Bedeutung der mitmenschlichen Beziehungen auch in der Psychoanalyse in den Mittelpunkt des Interesses. Besondere Beachtung fanden die langjährigen Beobachtungen Margaret Mahlers, die aufgrund ihrer Forschungen eine Theorie von der stufenweise erfolgenden Loslösung und Individuation des Menschen aufstellte. Ihre Forschungen haben gezeigt, wie sehr die Entwicklung des Kindes davon abhängig ist, daß der Erwachsene dessen Eigenständigkeit anzuerkennen vermag. Er muß in der Lage sein, auch über dessen erste Kinderjahre hinaus, den Wechsel von Abhängigkeit und Anklammern des Kindes mit Unabhängigkeits- und Autonomiebedürfnissen zu ertragen und zu verstehen. Autonomie wird allerdings in unserer Kultur dem Knaben eher zugestanden als dem Mädchen.

Um sich von der Mutter altersentsprechend lösen zu können, braucht das Kind spätestens am Ende des zweiten Lebensjahres noch weitere mitmenschliche Beziehungsmöglichkeiten als nur die zur Mutter. Dafür bietet sich bei uns meistens der Vater an, dessen Beteiligung an der Kindererziehung nicht früh genug erfolgen kann, wenn das Kind tatsächlich die notwendige Selbständigkeit und innere Sicherheit erreichen soll. Der Prozeß der Individuation des Kindes wird nur gelingen, wenn der Vater sowohl ihm als auch der Mutter einfühlend begegnen kann und vom Kind zeitweilig als Brücke zur Mutter erlebt wird. Das erleichtert es dem Kind, sich ihm zuzuwenden und sich aus der ausschließlichen Zweierbeziehung zur Mutter zu lösen, ohne zu viel Angst und Schuldgefühle zu entwickeln.

Mit der langsamen Verinnerlichung einer Beziehung zu zwei als unterschiedlich erlebten Menschen lernt das Kind die Vielfältigkeit der Welt besser begreifen und Ängste vor dem Fremden als auch Angst vor dem eigenen Körper langsam zu überwinden. Allzuoft fehlt es aber in der Ehe an gegenseitiger Einfühlung und einer entsprechenden Sensibilität für die unterschiedlichen und gegensätzlichen Bedürfnisse des Kindes.

Beide Eltern müssen zu einer einfühlenden Beziehung zu mehreren Personen gleichzeitig fähig sein, um das Kind mit seinen widersprüchlichen Bedürfnissen verstehen zu können. Nur dann wird der Junge nicht mehr frühzeitig in gefühlsabwehrende egoistische „Männlichkeit“ gestoßen und das Mädchen nicht übermäßig von der Mutter in Abhängigkeit gehalten werden.

Das Beispiel einer Frau soll veranschaulichen,  wie sich Probleme dieser Art im späteren Leben auswirken können: Ilse heiratete ziemlich spät. Über Jahre hatte sie mit einem Mann zusammengelebt, der sie mehr oder weniger in die führende Rolle gedrängt hatte, ihr die Verantwortung für das gemeinsame Leben überließ. Ihre Gefühle ihm gegenüber waren ziemlich zwiespältiger Natur.

Schließlich trennte sie sich von ihm, obwohl ihr das große Schuldgefühle machte. Wenig später heiratete sie einen anderen Mann. Sie war vor und nach der Ehe immer berufstätig und unterbrach ihre Arbeit nur kurz, als sie ein Kind bekam. Sie liebte ihre Tochter über alles und machte sich später immer Vorwürfe, daß sie sich ihr nicht genügend gewidmet hatte.

Als sie über 40 war und sich ihre 15jährige Tochter altersentsprechend von ihr zu lösen begann, trauerte sie heftig darüber, daß sie die Zeit der Abhängigkeit des Kindes von ihr nicht besser genutzt hatte und in ihrer Erziehung manches versäumt haben könnte. Allerdings war sie sich auch darüber im klaren, daß ihre Tochter die Lösung von ihr, der selbständigen und mit ihrem Beruf zufriedenen Mutter, leichter vollziehen konnte als manche ihrer Freundinnen, deren Mütter in der abhängigen Beziehung ihrer Kinder zu ihnen ihren Lebensinhalt sahen. Dennoch bedrückte sie nach wie vor das Gefühl, des „verlorenen Glücks“, und sie hielt daran fest, nicht genügend für die Tochter getan zu haben. Mit Schmerzen durchlebte sie die notwendigen Abschiedsprozesse und die Konfrontation mit dem Älterwerden.

Betrachten wir die Kindheit dieser Frau, so war sie sehr an die Mutter gebunden und hatte schon früh darunter gelitten, daß diese in ihrer Ehe oft unglücklich gewesen war. Der Vater war ein schwieriger, oft depressiv verstimmter Mann gewesen, der   viel Aufmerksamkeit von seiner Frau forderte, selber aber wenig Einfühlung in Frau und Tochter besaß. Ilse hatte deswegen schon als Kind das Gefühl, sie müsse der Mutter ersetzen, was diese vom Vater nicht bekam. Ihr war aber auch klar, daß sich ihre Mutter zu sehr an sie hängte und selber zuwenig versuchte, sich selbständig zu machen und sich außerhalb der Familie einen Lebensinhalt zu verschaffen.

Das war einer der Gründe dafür gewesen, daß Ilse selber, als sie ein Kind bekam, immer bemüht war, beruflich tätig zu bleiben, um nicht allein auf die Familie und deren Zuneigung angewiesen zu sein. Sie hatte lange dazu gebraucht, sich von der Mutter altersentsprechend zu lösen und selbständig zu werden.

Bei Ilse hatte die sogenannte ,Triangulierung‘ oder Dreierbeziehung im Sinne dessen, daß die Beziehung zum Vater eine Brücke zur Mutter bildete und schließlich eine eigenständige, ihre Weltsicht und Selbständigkeit erweiternde Bedeutung gewann, nur ungenügend stattgefunden. Deswegen konnte ihr auch der Vater oder ihr Bild von ihm die Verantwortung, die sie für die Mutter fühlte, nicht abnehmen. Obwohl es Ilse später in der Pubertät mit Hilfe von außerfamiliären Interessen gelang, eine Trennung von der Mutter weitgehend durchzuführen, kam sie von diesen, in vielem unangemessenen Schuldgefühlen nicht los.

Sie fühlte sich weiter als diejenige, die der Mutter Ersatz für unerfüllte Glückshoffnungen in der Ehe bieten mußte. Gleichzeitig brauchte sie das Gefühl der Unabhängigkeit und hatte ein nicht zu unterdrückendes Bedürfnis, ihr eigenes Leben zu leben. Diese Konstellation wiederholte sich, wenn zweifellos auch in veränderter Form, in ihrer Beziehung zur Tochter. Sie war oft sehr traurig, nicht beide, gleich starken Bedürfnisse so erfüllen zu können, wie sie es von innen heraus glaubte tun zu müssen.

Wenn sie sich in der Pubertät weitgehend von der großen Abhängigkeit zu ihrer Mutter hatte lösen können, so hatte ihr die Mutter aber dazu viel mehr geholfen, als sie es über lange Zeit wahrzunehmen vermochte. Denn es lag auch mit an der eigenen Haltung und den eigenen Bedürfnissen, daß sie sich von dem sie bedrängenden Gefühl, die Mutter glücklich machen zu müssen, erst so spät hatte lösen können. Mit Hilfe einer solchen inneren Konstellation war es ihr gelungen, das Gefühl aufrechtzuerhalten, für einen anderen Menschen das „Wichtigste auf Erden“ zu sein.

Schuldgefühle der Art, wie sie Ilse empfand, lassen sich auf eine nur teilweise gelungene Lösung von der engen symbiotischen Bindung an die Mutter zurückführen. Indem man glaubt, für die Mutter „das Wichtigste auf Erden“ zu sein, hat man die ursprüngliche Mutter-Kind-Beziehung umgekehrt, macht einen anderen Menschen so abhängig von sich, wie das früher einem selbst in der Beziehung zur Mutter ergangen ist.

Nur indem man die Vergangenheit, das bisherige Verhalten einigermaßen durchschauen lernt, um sich dann langsam davon trennen zu können, kann im späteren Leben so etwas wie ein „Neubeginn“ einsetzen. Mit solchen inneren Trennungen und einer damit einhergehenden neuen Selbstfindung lassen sich auch die zwiespältigen Beziehungen zwischen Mutter und Tochter verbessern und erklären. Mit der größeren Unabhängigkeit Ilses von ihrer Mutter und Distanz zu deren Wertvorstellungen fühlte sich ihre Mutter keineswegs nur gekränkt, sondern auch von der jetzt als stark erlebten Tochter beschützt.

Die Mutter war in der Familie bisher immer die Starke gewesen, von der Mann und Tochter abhängig waren. Auch in dieser Familie war die Atmosphäre durch eine häufig vorkommende Familienkonstellation geprägt gewesen. Dem Vater, als Vertreter der äußeren Gesellschaft, von dem man ökonomisch abhängig war, wurde ein weit höheres Prestige in Fragen der Intelligenz und des sozialen Einflusses zugemessen als der Mutter. Innerhalb der Familie wurde ihm aber erlaubt, ein verwöhntes Kind zu sein, dessen egoistische Wünsche man zu erfüllen hatte. Diese Haltung wurde von der Mutter zugleich gefördert als auch verachtet.

Das trug dazu bei, daß sich Ilse weder mit dem Vater identifizieren noch voll der  Mutter zuwenden konnte. Die Rettungsphantasien ihrem ersten Freund gegenüber, der dem Vater in manchem ähnelte, standen deswegen in Zusammenhang mit Schuldgefühlen beiden Eltern gegenüber, die sie untergründig oft haßte und verachtete. Darüber hinaus mußte sie das Bild der Eltern in sich retten, da diese für sie schließlich auch sogenannte Selbst-Objekte darstellten, das heißt ein Teil ihrer selbst waren. Denn das Selbstwertgefühl eines Menschen bleibt abhängig davon, daß er als Kind die Eltern zeitweilig als Vorbilder erleben kann und ihnen einen Wert zu geben vermag. In dem Beispiel von Ilse spielen Schuldgefühle als Folge ungelöster Abhängigkeitswünsche der Mutter gegenüber eine große Rolle.

Ich möchte an einem weiteren Beispiel darstellen, wie es zur mehr oder wenigen endgültigen Abwendung von der Mutter kommen kann: Martha suchte mich auf, weil sie an Frigidität und Selbstwertstörungen litt. Sie studierte seit vielen Jahren, ohne zu einem Abschluß zu kommen. Als sie vor zwei Jahren ein Kind erwartete, heiratete sie. Beides, Ehe und Kind, kamen ihr gelegen, bedeutete eine Unterbrechung der belastenden Situation an der Universität. Das Kind war außerdem der erwünschte Beweis dafür, daß sie eine Frau war. Denn sie zweifelte seit langem insgeheim an ihrer sexuellen Identität, empfand ihren Körper als knabenhaft und minderwertig. Die sexuelle Beziehung zu ihrem Mann war schlecht, sie ertrug sie nur mit Mühe. Daran änderte auch Ehe und Mutterschaft nichts. Sie fühlte sich leer, unerfüllt und nahm ihre Studien von neuem auf.

Auf Anraten einer Gruppe von Frauen, mit der sie ihre Probleme diskutierte, ging sie mehrere sexuelle Beziehungen mit anderen Männern ein. Sie suchte sich dabei vor allem Männer aus, die deutlich eine Vaterrolle in ihrem seelischen Erleben spielten. Ihre Kindheit war – ihrer Erinnerung nach – in den ersten vier Jahren recht glücklich verlaufen. Der Vater war im Krieg, die Mutter in einer kleinen Stadt bei Verwandten. Da die Mutter die Trotzausbrüche ihrer Tochter schlecht vertragen konnte, fügte sich Martha bald und wurde ein braves, von der Mutter besonders abhängiges Kind.

All das änderte sich schlagartig, als der Vater aus dem Krieg zurückkam. So wie vorher in der Tochter, ging die Mutter jetzt ganz im Vater auf. Bald war sie wieder schwanger und gebar einen Sohn, als Martha fünf Jahre alt war.

Voll schmerzlicher und wütender Enttäuschung wandte diese sich von der Mutter ab und suchte Trost beim von der Mutter bewunderten Vater. Er vermochte aber die Bedürfnisse der Tochter offenbar nicht als das, was sie waren, zu erkennen, nämlich als Versuch, zu zwei Personen eine Beziehung zu gewinnen, um die Abhängigkeit von der Mutter zu lösen und mit dem Haß auf sie fertig zu werden. Er reagierte überempfindlich und abweisend auf ihre kindlich-sexuellen Zärtlichkeiten. Die Mutter wiederum reagierte mit Liebesentzug auf den Rückzug der Tochter.

Als Kind war Martha durch die äußeren Umstände häufig gezwungen, den elterlichen Verkehr zu beobachten, denn sie schlief bis zum 13. Lebensjahr im Schlafzimmer der Eltern. Gleichzeitig wurde ihr selber Onanie verboten, und sie fühlte sich oft hilflos ihren sexuellen Erregungen ausgesetzt. Von beiden Eltern enttäuscht, aber auch unfähig zur Autonomie, blieb sie dennoch von den Wertvorstellungen der Eltern abhängig. In der Pubertät mit ihren erneuten Trieb- und Abhängigkeitskonflikten fühlte sie sich von der Mutter wiederum im Stich gelassen und vom Vater als Frau nicht akzeptiert. Wenn Martha spät nach Hause kam, nannten die Eltern sie eine Hure und drohten ihr an, sie zu verstoßen.

Immer wieder versuchte sie ihr Selbstwertgefühl mit Hilfe von sexuellen Beziehungen zu Männern aufzubessern. Der gewünschte Erfolg blieb allerdings aus, denn diese Männer brachten ihr als Frau faktisch nicht mehr Verständnis und Achtung entgegen als die Eltern.

Ihren Mann machte sie im Laufe der Ehe zu ihrer Mutter. Sie konnte ohne ihn nicht sein, war so abhängig von ihm wie als Kind von der Mutter, wollte dabei möglichst wenig mit Sexualität zu tun haben. Sie drängte ihren Mann in die Hausfrauenrolle und verachtete ihn gleichzeitig dafür. Die frühen Identifikationen mit der bewundernden und fürsorgenden Mutter waren ihr als Folge ihres Hasses und ihrer Enttäuschung über sie und der Unfähigkeit, die Trennung von ihr wirklich zu vollziehen, weitgehend verlorengegangen. Dadurch fehlte ihr aber auch die Möglichkeit, mit sich und anderen zufrieden zu sein und das Gefühl zu entwickeln, ihrem Kind etwas geben zu können. Von der eigenen Mutter wollte sie mittlerweile endgültig nichts mehr wissen.

Eine solche Entwicklung der Mutter-Tochter-Beziehung trifft die Mutter hart, wenn sie auf diese Weise zur Schuldigen für alle Enttäuschungen im Leben ihrer Tochter gemacht wird. Sie hat dann meist ein Alter erreicht, in dem sie mit ihrer Einsamkeit nur schwer fertig werden kann, wenn ihre Kinder sie nicht mehr brauchen oder nichts mehr von ihr wissen wollen. Da sie dazu erzogen wurde, ihren Lebensinhalt in der Versorgung von Mann und Kindern zu sehen, ist sie in ihrer Desorientierung und Verlorenheit den Vorwürfen ihrer Kinder besonders hilflos ausgesetzt.

Der Vater, der in seinen beruflichen Interessen aufzugehen pflegt, bringt für die Frau im fortgeschrittenen Alter und ihrer Einsamkeit nur selten Mitgefühl auf.  Depressionen sind oft die Folge.

Immer wieder wurde auch der Frau der Vorwurf gemacht, daß sie narzißtischer sei als der Mann. Die Ursache dafür wurde darin gesehen, daß erstens die Frau das Gefühl der eigenen anatomischen Minderwertigkeit nicht zu bewältigen vermöge und zweitens die Mutter ihrer Tochter nur widersprüchliche Gefühle entgegenbringe. Gleichzeitig wurde und wird aber wie selbstverständlich von jeder Mutter verlangt – obwohl sie doch von der eigenen Mutter wenig eindeutig positive Gefühle erlebt haben soll -, daß sie mehr als irgendjemand in unserer Gesellschaft die Fähigkeit entwickelt, sich in ihre Kinder einzufühlen. Es ist unübersehbar, daß hier innerhalb der psychoanalytischen Theorie als auch in den Anforderungen der Gesellschaft an  sie Widersprüche vorliegen. Die Mutter wird idealisiert, als ungewöhnlich bedeutsam für ihre Kinder hingestellt, aber zugleich wird sie als unfähig angesehen, wird ihr die Schuld für deren Versagen im Leben zugeschoben.

Das kleine Mädchen muß sich aber schon früh als minderwertig erleben, weil ihm von der Mutter nur zwiespältige Gefühle entgegengebracht werden und es außerdem rein körperlich dem Knaben nicht gleichwertig ist. Dieses Gefühl der Minderwertigkeit wird später von der gesellschaftlichen Einstellung den Geschlechtern gegenüber, mit der sich die Mutter teilweise identifiziert, bestätigt. Um das lädierte Selbstwertgefühl zu kompensieren, sei dann das Mädchen jetzt in besonders narzißtischer, das heißt selbstbezogener Weise darauf aus, Bestätigung von außen zu bekommen und um jeden Preis geliebt und bewundert zu werden.

Bei einer solchen Theorie über die Entwicklung der Frau ist es jedoch kaum verständlich, wenn gleichzeitig von ihr Aufopferung für die Familie und Einfühlung in das hochkomplizierte Seelenleben des Kindes erwartet wird . . .

Untersuchungen darüber, warum dennoch die Mutter oft erstaunlich viel Einfühlung für ihre Kinder aufzubringen vermag, obwohl sie doch selber in ihrem Selbstwertgefühl so frühzeitig gestört wurde, sind noch nicht geleistet worden. Vermutlich setzen sich Verinnerlichungen mit der angstmildernden und trostspendenden Mutter beim Mädchen von Generation zu Generation stabiler fort als beim Knaben. Denn dieser wird durch die Wert- und Verhaltensnormen seiner Gesellschaft mehr oder weniger gezwungen, sich von seinen ersten Verinnerlichungen der mütterlichen Funktionen frühzeitig zu lösen. Diese Art von positiven Verinnerlichungen bauen aber psychische Strukturen auf, die zu einer gewissen inneren Sicherheit führen und selbst durch gesellschaftlich negative Haltungen der Frau gegenüber nicht ausgelöscht werden. Möglicherweise ist das die Erklärung dafür, daß Frauen nicht selten ein stabileres Selbstwertgefühl aufbauen, als es dem Mann möglich ist.

Die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls des Mädchens ist dennoch bei der bewußten und unbewußten Haltung der Eltern ihm gegenüber und der entsprechenden Erziehung nach wie vor gefährdet. Es ist deswegen dringend notwendig, daß wir die soziokulturellen Zusammenhänge und ihre Wirkung auf die menschliche Psyche genügend überschauen. Identifikationen mit gesellschaftlichen oder wissenschaftlich sogenannten Vorurteilen (die eigentlich Vorurteile sind) verhindern es oft, mit diesen kritisch umgehen zu lernen. Für viele ist es eine unerträgliche narzißtische Kränkung, wenn sie mühsam erworbene Kenntnisse und Werte erneut in Frage stellen und von einer anderen Warte aus betrachten lernen müssen. Wird diese Kränkung aber nicht ertragen, bleibt der Zugang zu neuen Erkenntnissen und neuen Verhaltensweisen gesperrt.

Wenn wir die weibliche Entwicklung als Folge unabänderlicher biologisch-sexueller Gegebenheiten oder auch ausschließlich als Folge der Mutter-Kind-Einheit ansehen, geraten wir in eine Sackgasse und bleiben blind für die psycho-sexuelle Verarbeitung gesellschaftlicher Bedingungen, die durch die frühen, aber auch durch die späteren Beziehungspersonen, deren Verhalten, Phantasien, Erziehungsmuster etc. dem Kind vermittelt werden. Bemühungen um Selbstfindung und Autonomie der Frau, um Entwicklung neuer Beispiele für weibliches Verhalten werden dann wenig Chancen auf Erfolg haben.

Erst die kritische Distanz der Frauen zu sich selber und der vom Mann geprägten Gesellschaft gibt ihnen auch die Möglichkeit zu erkennen, welchen Einfluß nach wie vor unbewußte Identifikationen mit männlichen Wertvorstellungen und Haltungen selbst auf die Frauenbewegung ausüben. Die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls der Frau ist nicht nur durch die Eltern oder durch äußere gesellschaftliche Einflüsse behindert, sondern auch durch unbewußte seelische Vorgänge, die bewußt gemacht werden müssen, um Selbstwertstörungen rückgängig machen und falsche Vorbilder aufgeben zu können.

Margarete Mitscherlich-Nielsen

Aus © EMMA 4/1980