Das kleine Mädchen, das ich war

Ich kann mich genau daran erinnern, so meine ich wenigstens, was für Gefühle ich als kleines Mädchen hatte. Fast körperlich spüre ich, wie ich die Straße entlanghüpfe oder laufe, denn gehen tat ich so gut wie nie. Bewegung war für mich elementar wichtig, meist lustvoll. Schwimmen, ins Wasser springen, Schaukeln, auf Bäume klettern gehörten während des Sommers zu meinen täglichen Vergnügungen, denen ich leidenschaftlich nachging.

Ich bin in einer kleinen dänischen Stadt, nahe der deutschen Grenze geboren, ein Gebiet, das öfters seinen Herrn wechselte, das heißt, die dort überwiegend dänische Bevölkerung stand im Laufe des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts unter deutscher Herrschaft.

Meine Mutter war Lehrerin, stammte aus Deutschland; mein Vater, ein Arzt, gehörte einer sehr national gesonnenen dänischen Familie an, die im deutsch-dänischen Grenzgebiet über Generationen für die Rückgabe der ursprünglich dänischen Gebiete gekämpft hatte.

Mein Leben war durchaus von der Grenzlandsituation bestimmt, besonders deswegen, weil Vater und Mutter verschiedener nationaler Gesinnung waren. Das bedeutete dort sehr viel, denn Deutsche und Dänen waren, was nationale Interessen und Identitäten betraf, einander keineswegs besonders freundlich gesonnen. In dem großen Arzthaus, in dem ich aufwuchs, war ganz oben auf dem Dach, im sogenannten Saal, ein großer Dannebrog, das heißt die dänische Fahne, die immer dann herausgehängt wurde, wenn dänische Feste stattfanden, wenn historische Ereignisse, beispielsweise Siege, die irgendwann einmal erkämpft worden waren, gefeiert wurden, und – das waren meist Siege (oder Niederlagen!) im Kriege gegen den südlichen Nachbarn Deutschland. Die Fahne war groß und breitete sich in ihrer Länge so ziemlich über das ganze Haus aus. Meine Mutter, eine nationalbewußte Deutsche, bekam dann regelmäßig Migräne und mußte den Tag im verdunkelten Zimmer verbringen.

Ich sprach beide Sprachen, Deutsch und Dänisch, wie es dort oft der Fall war, und lieh mir, da ich schon früh gern und viel las, aus beiden dort vorhandenen Bibliotheken, der deutschen und der dänischen, Bücher aus, um meinen Lesehunger zu befriedigen. Es war mühsam für ein Kind, von zwei sich so konträr fühlenden

Elternidentitäten bestimmt zu werden und sich darin sicher zu fühlen. Ich meine, daß sich auch auf diese Situation – nämlich unentwegt mit zwei oft kontroversen Arten zu denken, zu fühlen und zu bewerten konfrontiert zu sein – zurückführen läßt, daß ich schließlich Psychoanalytikerin wurde. War es doch in meiner Kindheit vorwiegend so: kaum hatte ich mich mit einem Teil der Familie, deren Freunden und Freundinnen identifiziert, wurde ich mit dem anderen Teil konfrontiert, der oft gegensätzlich andere Positionen vertrat.

Um diesen, für ein Kind schwierigen Situationen zu begegnen, entwickelte ich frühzeitig zwei Eigenschaften: die Selbst- und Fremdbeobachtung, die oft schmerzlich war und heftige kritische Züge annehmen konnte. Ich versuchte genau hinzusehen, wollte immer die „Wahrheit“ über Situationen und Menschen herausfinden. Auch wehrte ich mich gegen den dauernden Identitätswechsel durch oft übertriebene Identifikation mit den Freunden und Nahestehenden der Kindheit, insbesondere mit meiner Mutter, deren nationaldeutsche Einstellung ich über lange Zeit übernahm, und die mir erst durch Hitler ausgetrieben wurde.

Nun war die Übereinstimmung mit meiner Mutter auch deswegen nicht besonders schwer, da sie in der Tat eine liebenswerte warmherzige, zur Einfühlung fähige Frau war. Auch war sie meist heiter, hatte so viele kindliche Seiten, daß sie sich unschwer in ihre Kinder einfühlen konnte und mit ihnen Spiele spielte, die festlich überraschenden Charakter hatten.

Wir gingen zum Beispiel oft spazieren, in die naheliegenden Wälder und fanden dort in einem hohlen Baumstamm irgendeine Überraschung. Kindergeburtstage wurden im Wald gefeiert, abwechslungsreiche Spiele wurden von ihr inszeniert, Weihnachten war ein großes Fest mit genau den Geschenken, die man sich gewünscht hatte, und vielen ähnlichen mehr. Sie kannte auch meine Trennungsangst, fühlte sich in sie ein, fand meist Trost und Milderung dafür. Wenn ich krank war, las sie mir vor, wärmte die Bettdecke im Winter – nun, ich könnte noch vieles aufzählen, was ich an Positivem von ihr erfahren durfte.

Die Neigung, schon im frühen Kindesalter viel zu lesen, stammt wohl auch von ihr, wie wohl auch das Bedürfnis nach körperlicher Bewegung in recht komplizierter Weise mit ihr in Zusammenhang stand. Sie hatte als Fünfjährige eine Knochentuberkulose durchgemacht, deren Folge ein verkürztes Bein, ein deformierter Fuß und ein versteiftes Fußgelenkt waren. Die Bewegungseinschränkung, die das mit sich gebracht hatte, nahm sie sehr mit.

Später – so kenne ich sie als kleines Mädchen – war sie trotz dieser Leiden erstaunlich bewegungsfreudig. Sie verleugnete – und ich mit ihr – diese körperlichen Behinderungen so weit wie möglich.

Aber konnte ich wirklich offen sein zu meiner Mutter? Ich durfte zum Beispiel um keinen Preis lügen, das war eine unverzeihliche Sünde und wirkte ziemlich bedrängend auf mich. Sexuelle Spiele mit den Kindern der Umgebung, überhaupt Regungen sexueller Art galten als mit das Schlimmste, was ein Kind haben konnte, von der krankmachenden Wirkung solcher Spielereien wurde früh gesprochen. Meine Mutter bekam dann die mich so bedrückenden „traurigen Augen“. Ja, sie konnte einen schon sehr an sich binden. Meinem Vater durfte ich zwar, wenn möglich, gute Laune machen, denn er war nicht selten überlastet und verstimmt, aber die Liebe sollte doch eigentlich ihr allein gehören. Dabei konnte mein Vater sich eindeutiger als sie auf meine Seite stellen, wenn ich beispielsweise Schwierigkeiten mit Lehrern und Lehrerinnen hatte. Ich war ihm dankbar dafür, hatte allerdings im Geheimen das Gefühl, daß es ihm an kritischen Überblick auch mir gegenüber eher fehle. Dennoch hat mir das offenbar wohler getan, als es mir damals bewußt war, denn ich habe später auch meinen Kindern gegenüber diese Haltung eingenommen.

Meine Mutter aber war die Bestimmende in dem Hause mit den aus den zwei Ehen meines Vaters stammenden fünf Kindern. Mein Vater war zwar, als Arzt nach außen hin bekannt, deutlich Oberhaupt der Familie, aber drinnen herrschte die Mutter. Mein Vater wurde mit zunehmendem Alter mehr und mehr ihr Kind, wie es so häufig der Fall ist. Schon wegen ihrer Wärme und Einfühlung hingen alle Kinder mehr an ihr als am Vater, der dazu neigte, egozentrisch um die eigenen Bedürfnisse, Leiden und Sorgen zu kreisen. Dieses Gefühl, von ihr weitgehend verstanden zu werden, wie auch ihre Heiterkeit wog alles andere auf.

Sie sah sich als emanzipierte Frau, war lange berufstätig gewesen, hatte studiert. Ihre Freundinnen, viele davon blieben unverheiratet, waren meist berufstätig, waren beispielsweise Anhänger Gertrud Bäumers und der von ihr verkörperten Strömung der bürgerlichen Frauenbewegung. Was letztendlich zur Folge hatte: Anpassung an bestehende Verhältnisse und konservativ nationale Gesinnung. Dennoch: im Vergleich zu anderen Ehefrauen der Ärzte und Akademiker am Ort war meine Mutter wohl tatsächlich emanzipiert. Sie las viel, war recht gebildet, an manchem geistigen und politischen Themen lebhaft interessiert. Und dennoch ging von ihr und ihren Freundinnen zweifellos auch eine klassenbeschränkte konversative Stimmung aus.

Ich habe meine Mutter schon als kleines Mädchen, noch mehr als ich in die Nähe der Pubertät kam, oft gefragt, warum sie um Gottes Willen meinen Vater geheiratet hätte, den ich als ihr weit unterlegen empfand. Ich wollte, so betonte ich immer wieder, überhaupt nicht heiraten, das sei doch „reine Prostitution“, man schlafe mit dem Mann, nicht weil man ihn liebe, sondern weil er einem ökonomisch und gesellschaftlich Sicherheit biete.

Diese Themen, die ich immer wieder aufbrachte, hatten wahrscheinlich auch in ihrer Rigorosität den mir damals unbewußten Zweck, meine Mutter zu kränken und ihr die Verachtung meiner kindlichen Sexualität, deretwegen sie mir zu viele Schuldgefühle aufgeladen hatte, zurückzuzahlen. Dennoch hatte sie, trotz aller Identifikation mit vielen der bürgerlichen Vorurteile ihrer Umwelt, auch mit meiner Verachtung und Verspottung dieser Welt im Grund Sympathie, auch sie war nicht ohne revolutionäre Bedürfnisse. Mit meiner Auflehnung war es auch so weit nicht her, denn faktisch war ich an die Gesetze des Anstandes, an deren weibliches Rollenverständnis viel mehr gebunden, als ich es wahr haben wollte.

Immerhin war es dann auch meine Mutter, die später darauf drang, daß ich mich frühzeitig vom Elternhaus und damit auch von ihr, löste, um in einer nahegelegenen Stadt in Pension zu gehen und dort mein Abitur zu machen. So schmerzlich mir diese Trennung anfänglich wurde – ohne sie wäre ich wahrscheinlich nie selbständig geworden und hätte nie die notwendige Trauer und Ablösung von einer geliebten Person ertragen gelernt.

Aber das ist nicht mehr das kleine Mädchen, von dem es hier zu erzählen gilt. Was könnte ich noch von diesem berichten? Körperliche Angst lernte ich erst in der Pubertät kennen, vorher war mir kein Baum zu hoch, um ihn zu erklettern, kein Sprungbrett zu gefährlich, um von ihm aus ins Wasser zu springen etc., dennoch kannte ich Angst sehr wohl, da gab es die Angst vor der Dunkelheit, die mich oft überwältigte. Abends in ein dunkles Zimmer oder gar in den Keller zu gehen, war mir äußerst unangenehm.

Da gab es auch die Angst vor Hunden und last not least die vor Spinnen. Wenn ich bei meinen Klettereien plötzlich auf eine Spinne stieß, kam es vor, dass ich mich mit einem lauten Schrei einfach herunterfallen ließ. Auch hatte ich Angst vor meinem um weniges älteren Bruder, der sehr eifersüchtig war, weil er glaubte, die Mutter bevorzuge mich und deswegen jede Gelegenheit nutzte, mich zu prügeln. Erst  später kam die Angst vor der Angst zu den vielen anderen Ängsten dazu, in der frühen Kindheit aber hatte die Angst durchaus noch unmittelbare Objekte und Inhalte.

Vor allem aber hatte ich eben Angst vor der Trennung von meiner Mutter. Ich war eindeutig ein Mutterkind, auch wenn ich gleichzeitig schon früh die Neigung zum Weglaufen oder auch zur Erkundung der näheren und weiteren Umgebung zeigte und damit die Eltern oft ängstigte. Wenn die Mutter nur einen Tag in die nahegelegene Stadt fuhr, ich sie bei der Rückkehr aus der Schule zu Hause nicht vorfand, wurde ich weinerlich, zog mich zurück und litt unter Trennungsangst. Die Wochen, in denen die Eltern einmal im Jahr ihren Urlaub antraten, waren für mich immer schwer zu ertragen, besonders am Anfang, wenn der Abschied drohte.

Wozu alle diese Beschreibungen? Ich weiß es selber nicht. Vielleicht ergibt sich am Ende, was hier an weiterführenden Erkenntnissen enthalten sein könnte.

Ich hatte zum Beispiel eigentlich immer Freundinnen, sogenannte Busenfreundinnen. Die erste Freundschaft begann schon vor der Schulzeit. Dieses Mädchen steckte mir eines Tages eine Schleife mit der Stecknadel in den Kopf, wie man es bei seiner Puppe tut. Ich fühlte mich ziemlich sadistisch behandelt, dennoch hilflos und konnte nur vorwurflos-gekränkt reagieren. Es fiel mir, so meine ich, ziemlich schwer, mich aggressiv zu wehren, obwohl mein Bruder sich heute noch – nicht ohne Amüsement – an meine plötzlichen äußerst heftigen Wutanfälle erinnert, wenn er mich bis an die Grenzen des Erträglichen gequält hatte. Also so sanft und masochistisch, wie ich mich manchmal in Erinnerung habe, werde ich kaum gewesen sein, denn in der Schule hatte ich gelegentlich die denkbar schlechtesten Betragensnoten.

Meine sadistische Haarschleifenfreundin wurde mir nach einigen Jahren eher etwas langweilig, und ich verließ sie zugunsten einer anderen, die wiederum für lange Zeit meine beste, bewunderte Freundin blieb. Auch diese verließ ich später wieder, um mich einer anderen mir interessanteren zuzuwenden. So treu und zuverlässig, wie ich mich selber sehen wollte, war ich also kaum. Wenn ich mich in Wut und Empörung von jemand abwendete, war das oft für immer.

Dennoch war es lange das Typische in meinen Beziehungen zu Freundinnen, wie auch zu Lehrerinnen, daß ich sie bewunderte. Sie waren mir Vorbild, wie meine Mutter. Vaterfiguren zum Bewundern wurden natürlich auch gesucht, aber viel seltener gefunden als Frauen. Erst später habe ich erkannt, wie sehr ich auch Vaterimagines brauchte, um mein Selbstwertgefühl zu stabilisieren. Erst waren es die Väter meiner Freundinnen, die ich bewunderte und auf deren Frauen ich eher herabsah. Sie konnten sich mit meiner Mutter meinem Gefühl nach nicht messen. Eine Parteinahme für „Väter“ gab es also auch. Offenbar entbehrte ich, mehr als ich wußte, einen Vater, zu dem ich aufsehen und der mir Sicherheit vermitteln konnte.

Wenn ich später auf Männer stieß, die mir weniger zuverlässig und zu altruistischer Zuwendung weniger fähig schienen als Frauen, so blieb doch unübersehbar auch die Sehnsucht bestehen, Männer idealisieren und mich mit ihnen identifizieren zu können, auch wenn ich sie immer wieder auf die „Probe“ stellen mußte, was nicht selten zu Enttäuschungen führte.

Jedenfalls war auch in meiner Familie das typische „Arrangement der Geschlechter“ nicht zu übersehen. Die kleinen Kinder wurden von der Mutter erzogen, der Vater war draußen in der Gesellschaft bestimmend. Da allein die Mutter für die kleinen Kinder verantwortlich ist, verziehen diese in ihrer Hilflosigkeit nie, wenn die Mutter in der Einfühlung ihnen gegenüber versagte. Der Vater, der, wenn überhaupt, erst später seinen Einfluß auf die Kindererziehung geltend macht, erweckt deswegen bei ihnen im allgemeinen nicht die tiefe Animosität, die die Mutter zu spüren bekommt. Dafür ist allerdings die Zuneigung und Verbundenheit mit ihm auch oft oberflächlicher als in der Beziehung zur Mutter, so war das auch bei mir der Fall.

Von der Mutter wird in der frühen Kindheit erwartet, daß sie, wenn sie nur will, alles verstehen und alle Wünsche erfüllen kann. Auch der erwachsene Mann erwartet von der Frau eine ähnliche Verstehensbereitschaft und Toleranz und bleibt wie das kleine Kind ihren Fehlern gegenüber oft ohne Verzeihensbereitschaft. Obwohl er nach außen mehr Macht besitzt als sie, liegt bei der doppelten Moral, die nach wie vor unsere Gesellschaft beherrscht, die Last der moralischen Verantwortung fast ausschließlich auf ihren Schultern.

Mit Recht betont deswegen Dorothy Dinnerstein, daß bei einem solchen „Arrangement“, durch das der Mann zu moralischer Faulheit geradezu aufgefordert wird, seine Reife und die Fähigkeit zur Einfühlung infantil bleiben; wie auch die aktiven, kreativen und unternehmenden Eigenschaften der Frau verkümmern, wenn sie unterdrückt werden. Die untergründige, aber oft tiefgehende Wut, die diese Situation bei der Frau auslöst, bricht entweder mehr oder weniger hilflos durch – wie ich es an mir selber oft beobachten konnte – oder eine Frau wendet ihren Zorn in masochistischer Leidensbereitschaft gegen sich selbst. Sie verbündet sich dann innerlich mit den Vorstellungen des Mannes, daß es doch rechtens sei, wenn ausschließlich er sich voll verwirklicht und seine Bedürfnisbefriedigung ungehemmt durchsetzt.

„Die Mutter ist an allem schuld“, diese so oft vertretene Meinung konnte auch ich, trotz aller Liebe zu meiner Mutter, unbewußt über lange Zeit nicht ganz überwinden. Von ihr verlangte ich Vollkommenheit und Verzicht auf eigene Bedürfnisse. Daß keine Mutter, wie überhaupt kein Mensch, fehlerfrei ist und deswegen nie „ideal“ sein kann, will bis heute so mancher nicht einsehen. Das „Drama des begabten Kindes“ (Alice Miller) ist im Grunde ein „Drama der überforderten, in ihren Fähigkeiten gehemmten Mutter“, von der Einfühlung ohne Ende und ohne Einschränkung verlangt wird; Eigenschaften, die man ihr selber aber vorenthält.

Die Fehler des Vaters, mit denen das Kind später konfrontiert wird als mit denen der Mutter, ist es eher bereit zu verzeihen (obwohl das Kind sich auch vom Vater abzuwenden pflegt, wenn er dessen Idealisierungsbedürfnisse nicht befriedigen kann). Rückblickend kann ich es beispielsweise schlecht nachempfinden, warum ich für den psychischen Zusammenbruch meines alternden Vaters – nach dem Verlust seiner „Familienehre“ und der finanziellen Sicherheit – nicht mehr Verständnis aufbrachte, und warum ich mich deswegen innerlich so geschockt von ihm abwenden mußte. Auch muß ich mich über mich selber wundern, daß ich den Ängsten meiner Mutter und ihre moralische Intoleranz der Sexualität gegenüber, wie  sie sie von der sie umgebenden Gesellschaft übernommen hatte, auch noch als Erwachsene, mit so wenig Empathie, sondern nur mit Schuldgefühlen und untergründiger Wut begegnen konnte.

Aber man muß sich wohl damit abfinden, daß Einfühlung in und Reflexion über die Situation der Eltern, die ein Kind nicht zu leisten vermag, auch dem Erwachsenen noch schwerfällt. Um zu einer überlegeneren Einstellung fähig zu werden, ist Nachdenken, insbesondere über unsere Situation als Frau, bitter notwendig. Denn bis heute geschieht es auch von feministischer Seite – immer wieder, daß der Mutter die Schuld für alle eigene Fehlentwicklung zugeschoben wird.

Aus © EMMA 1/1981