Jenny (1814-1881) und Karl Marx (1818-1883) hatten im ganzen sechs Kinder: Jenny (1844-1883), Laura (1845-1911), Edgar (1847-1855), Heinrich-Guido (1849-1850), Franziska (1851-1852) und Eleanor, genannt Tussy (1855-1898). Ein 1857 im Juli geborenes letztes Kind starb drei Tage nach seiner Geburt. Vier der Marx-Kinder lebten also nur kurze Zeit, Edgar starb nach acht Jahren, die anderen kurz nach der Geburt innerhalb des ersten Lebensjahres. Nur die drei Töchter Jenny, Laura und Eleanor überlebten die Kinderjahre.
Das Schicksal der Marx-Familie war in bezug auf die Kindersterblichkeit durchaus zeittypisch. Über die psychische Bedeutung, die der Tod so vieler Kinder für die Überlebenden hatte, ist bis heute wenig bekannt. Es ist aber anzunehmen, daß sich die Depressionen von Frau Jenny Marx dadurch vertieften.
Der Briefwechsel der drei Marx-Töchter wird anfänglich vor allem von Tochter Jenny und Laura getragen, später nach ihrer Ehe kommen Briefe ihrer Ehemänner hinzu. Laura heiratete 1868 Paul Lafargue und Jenny 1872 Charles Longuet. Viele der Briefe sind an den Vater, Karl, gerichtet, der viele Spitznamen (wie Mohr, Tooley etc.) hatte, nur wenige an Mutter Jenny.
Als die beiden Schwestern mit ihren Männern in Frankreich leben, übernimmt die jüngste und begabteste Tochter Tussy den Hauptteil der Korrespondenz, die nach dem Tod der Eltern sich vor allem zwischen Eleanor (Tussy) und Laura abspielt. Die meisten Briefe (69 von 106) stammen von Tussy. Sie hängt besonders am Vater, auf dessen Briefe sie immer sehnsüchtig wartet. Aber auch für die anderen Schwestern, insbesondere Jenny, von der man sagt, daß sie die Lieblingstochter von Marx gewesen sei, ist der geliebte und idealisierte Vater der Mittelpunkt der Familie.
Es ist bekannt, wie häufig die Veröffentlichung von historisch bedeutsamen Korrespondenzen zurückgehalten wird. Angehörige und Verehrer des „großen Mannes“, um den es sich in solchen Fällen meist handelt, fürchten sich offenbar davor, daß die darin zum Vorschein kommenden „Schwächen“ ihres Helden, seiner „Sache“ schaden könnte. Aber gerade die Konfrontation mit den Mühen oder auch den Freuden des Alltags, die Briefe dem Leser vermitteln, die typischen Verhaltensweisen, die sie aufzeigen, geben in viel unmittelbarerer Weise Leben und Charakter der Briefpartner wieder, als das gewöhnlich in einer Biographie der Fall ist. Auch werden in Briefen manchmal Gedanken geäußert, die die späteren Theorien und Erkenntnisse des Schreibers vorwegnehmen.
Durch das Lesen solcher aufschlußreichen Korrespondenzen wird einem schmerzlich bewußt, was uns in der heutigen Zeit verloren geht, in der Briefe fast nur noch dazu dienen, kurze sachliche Inhalte zu vermitteln . . .
Als die Schwestern ihre Briefe schrieben, lebte die Familie Marx – im wesentlichen durch die Unterstützung von Engels – schon in besseren ökonomischen und weit großzügigeren Wohnverhältnissen als in den ersten Londoner Exil jähren, in denen sie in sehr bedrängter Umgebung (zwei Zimmer für zeitweilig 8 Personen) existieren mußte.
Besonders Frau Marx litt über viele Jahre unter den armseligen und erniedrigenden Lebensumständen. Täglich bedrängt von Geldsorgen, der Krankheit und dem Tod von vier Kindern, fühlte sie sich oft krank und depressiv. Dennoch half sie ihrem Mann, wann immer ihr es möglich war, schrieb seine Manuskripte ab und setzte sich für ihn und seine Ideen ein.
Die Briefe zeigen die Familie Marx als typisch patriarchalisch strukturiert und von viktorianischen Sittenvorstellungen beherrscht. Aber gerade weil der Vater im Mittelpunkt der Liebe und des Interesses stand, waren alle gleichermaßen, die Schwiegersöhne eingeschlossen, von der welterlösenden Idee des Sozialismus durchdrungen, der sie den größten Teil ihres Lebens widmeten. Marx war durchaus ihr „Gott“.
Das hindert allerdings die Schwestern in ihren Briefen keineswegs daran, ihrem Vergnügen am Klatsch nachzugehen. Nicht ohne herablassenden Spott oder mit mokantem Ton lassen sie sich gern über andere aus. Trotz aller Armut erlebte sich die Marx-Familie immer als etwas Besonderes, sie fühlten sich – nicht zu Unrecht, wie man später sehen konnte – als Vorreiter neuer Ideen und als Mittelpunkt der politischen und geistigen Welt ihrer Zeit. Ihr elitäres Familienbewußtsein hat bekanntlich viele ihrer Zeit- und politischen Glaubensgenossen irritiert.
In den ersten sechs Jahren, die dieser Briefwechsel wiedergibt, spielt sich das Leben der Schwestern in Modena Villas ab, dem großen Haus der Marx‘ in London. Eleanor ist anfänglich 11 Jahre, Jenny 22 und Laura 21 Jahre alt. Die Armut ist, wie gesagt, keineswegs mehr so drückend wie in den vorhergehenden Jahren; Bälle und Feste werden gefeiert, Liebesgeschichten spielen sich ab. Erst heiratet Laura, dann Jenny. Zur gleichen Zeit entsteht der erste Band von „Kapital“ (1867), die Erste Internationale gewinnt zunehmend an Bedeutung, das revolutionäre Verhalten der Pariser Kommune während des deutsch-französischen Krieges erregt Hoffnungen und Ängste. Zwischen 1872 und 1880 ist die Familie Marx mitsamt Töchtern und Schwiegersöhnen, die zeitweilig aus Frankreich verbannt sind, in London versammelt. London wird zur Hauptstadt des Sozialismus.
Nach der Amnestie 1880 können die französischen Schwiegersöhne von Marx nach Frankreich zurückkehren. Die private und politische Auseinandersetzung mit der neuen Umgebung spielen in den Briefen der Schwestern eine große Rolle. Sehr bald kommt dann die Zeit der schweren Krankheit der Mutter. Auch Marx kränkelt viel. Der Mittelpunkt der Familie – die Eltern Marx, die älteste Schwester Jenny sowie deren Sohn Harra Longuet – stirbt im Laufe weniger Jahre: erst Frau Jenny Marx (1881), ihr folgt die älteste Tochter Jenny (1883) und kurz darauf Karl Marx (1883).
Mit 17 Jahren verliebte sich Eleanor in Lissagaray, auch ein aus Frankreich ausgewiesener französischer Sozialist. Er ist 16 Jahre älter als sie und wird von den Eltern Marx als möglicher Schwiegersohn abgelehnt. Marx verbietet Tussy mehr oder weniger die Beziehung zu Lissagaray, so daß sie ihn, wenn überhaupt, nur äußerst selten sehen kann. Die Beziehung zu ihm blieb dennoch über neun Jahre bestehen.
Schon vor dem Tode der Eltern hatte Eleanor versucht, sich selbständig zu machen, sie versuchte Schauspielerin zu werden. Marx war immer dagegen, daß seine Töchter berufstätig wurden. Jenny mußte hinter dem Rücken des Vaters als Gouvernante arbeiten. Tussy fühlt zeitweilig, daß das Leben an ihr vorbeigeht, sie möchte „etwas tun“, bevor es zu spät ist. Sie klagt darüber, daß ihr geistig und beruflich nicht genügend Ausbildung gewährt wurde. Zeitweilig leidet sie unter Magersucht, Depressionen und Schlaflosigkeit, sie hat Angst vor dem psychosomatischen Zusammenbruch.
Marx zeigt ihren Krankheitssymptomen gegenüber wenig Geduld und Verständnis, sie sei „hysterisch“, so äußert er sich abfällig. Als sie nach dem Tode der Mutter mit ihrem Vater – zu dessen Erholung – nach Ventnor auf die Isle of Wight fährt, schreibt sie: „Ich klage überhaupt nicht gern – und vor allem gegenüber Papa nicht – denn er schimpft mich dann richtig aus, als ob ich mich auf Kosten der Familie ‚gehen ließe‘… Was weder Papa noch die Ärzte noch sonst jemand verstehen will, ist, daß ich hauptsächlich seelischen Kummer habe … Sie (die Ärzte, d. Verf.) können und wollen nicht sehen, daß seelische Bedrängnis genauso eine Krankheit ist, wie körperliche Beschwerden es wären.“
Kurze Zeit darauf schreibt Eleanor: „Und noch selbstsüchtiger scheint es, daß ich überhaupt an mich denke, statt nur an unseren lieben Mohr (damit ist Marx gemeint – d. Verf.). Wie sehr ich ihn liebe, kann niemand wissen, und doch müssen wir alle schließlich unser eigenes Leben leben…“
Was die Beziehung der Geschlechter betrifft, war Marx ein überaus konventioneller Mann. So schreibt er zum Beispiel an seinen zukünftigen Schwiegersohn Paul Lafargue, als dieser um Laura wirbt: „Wenn Sie Ihre Beziehung zu meiner Tochter fortsetzen wollen, werden Sie Ihre Art ‚den Hof zu machen‘ aufgeben müssen … Meiner Meinung nach äußert sich wahre Liebe in Zurückhaltung, Bescheidenheit und sogar in Schüchternheit des Verliebten gegenüber seinem Idol und ganz und gar nicht in Gemütsexzessen und einer zu frühen Vertraulichkeit … Vor der endgültigen Regelung Ihrer Beziehung zu Laura muß ich völlige Klarheit über Ihre ökonomischen Verhältnisse haben … Sie wissen, daß ich mein ganzes Vermögen dem revolutionären Kampf geopfert habe. Ich bedauere es nicht. Im Gegenteil. Wenn ich mein Leben noch einmal beginnen müßte, ich täte dasselbe. Nur würde ich nicht heiraten. Soweit es in meiner Macht steht, will ich meine Tochter vor den Klippen bewahren, an denen das Leben ihrer Mutter zerschellt ist…“
Erst nach dem Tod ihres Vaters lebte Tussy mit Edward Aveling zusammen, den sie wahrscheinlich schon 1882 kennenlernte. In dieser Zeit ist sie politisch sehr engagiert. 1883 beginnt das komplexe und schwierige Zusammenleben Eleanors mit Edward Aveling. Die Freundschaft zu ihrem Halbbruder Freddy gewinnt, nach dem Tode von Helene Demuth, an Bedeutung für sie. Schon bevor Engels stirbt, gibt es Auseinandersetzungen darüber, wem die Manuskripte von Marx hinterlassen werden sollen. Schwierigkeiten zwischen den Schwestern, groteske Szenen mit Luise Kautsky beherrschen das Bild. Einige Jahre nach dem Tode von Engels, der sie noch auf dem Sterbebett wissen läßt, daß nicht er, sondern Marx der Vater von Freddy ist, nimmt sich Eleanor das Leben. Sie stirbt, indem sie eine große Dosis Gift „für Hunde“ schluckt.
Eleanor ist schließlich an der immer unerträglicher werdenden Beziehung zu Aveling zerbrochen. Letztlich mag aber auch an ihrem endgültigen Zusammenbruch erst die Einfühlungsunfähigkeit des Vaters ihr gegenüber, später die Verständnislosigkeit Lauras mit daran Schuld tragen. Nach dem Tode der ältesten Schwester Jenny, von der ihr viel Verständnis entgegengebracht wurde, klagt Tussy zunehmend darüber, daß Laura ihr bei den Auseinandersetzungen mit Engels und Luise Kautsky nicht zu Hilfe kommt, ihre Briefe nur selten beantwortet. Auch für die Männerbeziehungen von Tussy zeigt Laura wenig Verständnis. Erst ist es Lissagaray, der abgelehnt wird, später die Art ihrer Beziehung zu Aveling. Laura und ihr Mann verhalten sich Lissagaray gegenüber wie Marx selber, völlig ablehnend.
Das Tragische im Leben dieser Familie läßt sich anfänglich an dem psychischen Elend und der Überforderung von Frau Jenny Marx, geborene von Westphalen, ablesen. Sie, die „Ballkönigin“ und „schönste Frau von Trier“, ist, wie Marx schreibt, an den Klippen des ökonomisch-psychischen Elends ihres Lebens im Exil, an den zahlreichen Schwangerschaften, dem Tod vieler Kinder, zerschellt – aber auch an der ungebrochen patriarchalischen Haltung von Karl Marx. Tragisch endet dann auch das Leben der drei Töchter. Jenny, die älteste, stirbt mit 38 Jahren an Blasenkrebs, nachdem sie von Ehe und vielen Kindern sich ähnlich überfordert und enttäuscht fühlte wie ihre Mutter. Laura sterben ihre drei Kinder, sie selbst nimmt sich gemeinsam mit ihrem Mann 1911 mit 66 Jahren das Leben, um mit dem Elend des Alterns nicht konfrontiert zu werden. Tussy, die bekannteste und begabteste der drei Schwestern, nahm sich 1898 mit 43 Jahren das Leben. Sie spielte bei der Gründung der 2. Internationalen und in Teilen der englischen Gewerkschaftsbewegung eine hervorragende Rolle.
Alle drei fühlten sich dem Vermächtnis des Vaters verantwortlich, sie waren ganz von der „Bewegung“ in Anspruch genommen. Dennoch beherrschten „Küche, Kinder und Sozialismus“ ihr Leben nicht weniger als die drei Ks (Küche, Kinder, Kirche) dasjenige der durchschnittlichen bürgerlichen Hausfrauen ihrer Zeit. Die Marx-Töchter waren davon überzeugt, es dem geliebten Vater schuldig zu sein, für ihn und seine Sache bedingungslos einzutreten. Gleichzeitig bemühten sie sich, ihm gute Töchter zu sein, sich als seine Sekretärinnen zu bewähren und so zu heiraten, wie er es wünschte. In dieser aufopfernden Haltung identifizieren sie sich mit ihrer Mutter, obwohl sie diese oft nicht ganz ernst nahmen und sie sich wohl dem Vater gegenüber als ihr überlegen erlebten.
Trotz Sozialismus und fortschrittlicher Ideen war die Familie Marx in weiten Bereichen also eine typisch bürgerliche Familie, die auch im Elend des Exils immer Dienstmädchen zur Verfügung hatte. Helene Demuth, die Haushälterin der Familie Marx war Köchin, Putzfrau, Krankenpflegerin, Kindermädchen und spätere Vertraute der Marx-Tochter und – früheres heimliches Verhältnis des Vaters in einer Person.
Das aus dem Verhältnis mit Karl Marx stammende uneheliche Kind dieser sich der Familie Marx aufopfernden Frau war Freddy Demuth, der am 23.6.1851 geborene Sohn von Marx, dessen Vaterschaft Engels übernahm. Erst am Totenbett von Engels erfährt Tussy die Wahrheit. Das war ein schwerer Schock für sie, auch da sie wußte, daß Freddy nach seiner Geburt gleich in Pflege gegeben wurde, kaum jemand sich um ihn kümmerte, geschweige denn, daß er das Haus der Marx‘ betreten konnte, als Marx noch lebte und seine Mutter dort Haushälterin war.
So lange Tussy glaubte, daß Engels der Vater von Freddy war, hatte sie ihm wegen seines ablehnenden Verhaltens diesem gegenüber vielen direkte und indirekte Vorwürfe gemacht. Das mag dazu beigetragen haben, daß Engels am Ende seines Lebens nicht mehr bereit war, auf Dauer diese „Schande“ auf sich zu nehmen oder als Schuft angesehen zu werden.
Zweifellos sollte ursprünglich Frau Jenny Marx geschont werden, die drei Monate vor Freddys Geburt eine Tochter, Franziska, gebar, ihr 7. Kind, das bereits im Jahr darauf verstarb. Ob Frau Marx tatsächlich nicht gewußt hat, wer der wirkliche Vater war? Da der Briefwechsel zwischen Marx und seiner Frau zu großen Teilen von Laura und Eleanor vernichtet wurde, erheben sich zumindest Zweifel daran. Denn sonst wäre es unverständlich, daß sie sich um das Kind ihrer so hochgeschätzten Haushälterin so wenig kümmerte, obwohl sie gewußt haben muß, daß dies in denkbar armseligen Verhältnissen aufwuchs.
Deswegen muß man meines Erachtens vermuten, daß sich Konflikte zwischen Jenny und Karl Marx einerseits und Helene Demuth andererseits abgespielt haben, die nur dadurch einigermaßen ertragen werden konnten, daß Jenny Marx, die oft am Rande ihres psychischen Gleichgewichts war, dieses Kind ihres Mannes nicht sehen und sich mit seiner Existenz nicht auseinandersetzen mußte. Erst als Helene Demuth, nach dem Tode von Jenny und Karl Marx, die Haushälterin von Engels wurde, besuchte ihr Sohn sie dort häufig. Erst jetzt lernte ihn wohl auch Tussy kennen.
Viele Schwangerschaften durchmachen zu müssen und viele Kinder zu haben, von denen etliche starben, war nicht nur das Schicksal von Frau Marx, sondern auch das ihrer älteren Töchter. Jenny setzte in zehn Jahren Ehe sechs Kinder in die Welt, Laura in vier Jahren drei. Von Jennys Kindern blieben vier am Leben, von Lauras keines. Jenny starb, wie bereits erwähnt, in jungen Jahren an Blasenkrebs, der deswegen zu spät erkannt wurde, weil sie in ihren Unterleibsbeschwerden eine neue Schwangerschaft vermutete.
Jenny wie auch Laura und Tussy waren aufopfernde Töchter ihres Vaters, gewissenhafte und treue Ehefrauen, die sich um ihre Kinder kümmerten und als Mitarbeiterinnen von ihren Männern geduldet und ausgebeutet wurden; eine Situation, die sich bis heute, ob es sich um politisch rechts oder links stehende Ehemänner handelt, kaum geändert haben dürfte.
Die Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern war aber keineswegs nur auf die verheirateten Töchter beschränkt, die nicht-eheliche Verbindung, siehe Eleanor und Aveling, ließ sich noch mehr als die Ehe durch den Mann ausbeuten.
In Eleanors Briefen an Freddy Demuth wird einem ihr Elend an Avelings Seite voll bewußt. Er war offenbar in bezug auf Frauen und Geld ein Mann ohne Skrupel. Als sie ihn kennenlernte, lebte er von seiner Frau getrennt, war aber noch verheiratet. Nachdem sie sich entschlossen hatte, auch ohne Eheschließung mit ihm zusammenzuleben, teilte sie das ihren Freunden mit, damit diese sich für oder gegen eine weitere Bekanntschaft mit ihr entscheiden konnten. Ein mutiger Schritt in der damaligen Zeit und bei der viktorianischen Erziehung, die sie genossen hatte.
Aveling kämpfte an ihrer Seite loyal für die Sache des Sozialismus, im übrigen war aber wenig Verlaß auf ihn. Er erlaubte sich alle nur denkbaren Freiheiten, Eleanor sich hingegen keine, sondern blieb in jeder Hinsicht verläßlich und treu.
Al s Edward nach zeitweiliger Abwesenheit wieder zu ihr zurückgekehrt ist, schreibt Tussy an Freddy, daß sie vor dem völligen finanziellen Ruin oder vor der völligen öffentlichen Bloßstellung stünde. Offenbar fand so etwas wie eine Erpressung statt. Aveling, dessen erste Frau mittlerweile gestorben war, hatte mit Hilfe seines Künstlernamens eine junge Schauspielerin hinter dem Rücken Eleanors geheiratet. Der Schock war zu groß für sie, jedenfalls scheint diese immer unerträglicher werdende Situation sie schließlich in den Selbstmord getrieben zu haben.
Dennoch schreibt sie am 5.2.1898 einen weiteren Brief an Freddy, in dem sie um Verständnis für Edward fleht. Sie schreibt darin von der moralischen Krankheit, der manche anheimfallen, wie auch Edward, und bittet Freddy, ihn deswegen nicht völlig abzulehnen. Manchen fehle der moralische Sinn, wie andere taub oder blind seien. So wenig wie man andere Krankheiten verurteilen dürfe, solle man auch die moralische nicht verdammen. Sie selber hätte dieses nach langem, fast unerträglichem Leiden gelernt, sie könne heute nur noch lieben.
Das trifft wohl auch für ihre Gefühle ihrem Vater gegenüber zu, den sie über alle Maßen liebte und idealisierte und dessen Wert sie ihr Leben widmete . . . Sie wird deswegen den Schock nicht überwunden haben, den sie erlebte, als Engels ihr kurz vor seinem Tod mitteilte oder mitteilen ließ, daß nicht er, sondern Marx der Vater von Freddy sei. So mag das, was sie einige Jahre früher durchmachen mußte, wodurch das Bild ihres Vaters ins Wanken geriet, dazu beigetragen haben, daß sie schließlich die doppelte Moral ihres Lebensgefährten Aveling nicht mehr zu ertragen vermochte.
Als Edward Aveling nach langer Krankheit, in der ihn Tussy aufopfernd gepflegt hatte, einigermaßen genesen war, sich aber am 31.3.1898 gegen ihren Willen nach London begab, offensichtlich um dort seine junge Frau zu besuchen, ist für sie die Grenze des Erträglichen erreicht. Sie nimmt sich das Leben.
Von vielen Freunden Eleanors wurde Aveling als „Schuft“ bezeichnet. Hätten diese Freunde von Marx, von Helene Demuth und Freddy gewußt, wer weiß, vielleicht hätten sie über Marx ein ähnliches Urteil gefällt. Obwohl alle drei Marx-Töchter über das „Hausfrauenelend“, das ewige Warten der Frauen klagen, obwohl sie das Gefühl nicht los werden, daß ihnen durch Marx und ihre Männer ein Schicksal aufgezwungen wurde, das sie nicht zu sich selber kommen läßt, hat sich keine von ihnen als Feministin erlebt. Der Kampf gegen den Jahrtausende alten Geschlechterkampf, gegen die Unterdrückung der Frau durch den Mann wird dem Klassenkampf untergeordnet. Das ist auch die Auffassung, die Tussy in einer mit Edward gemeinsam verfaßten Arbeit „The womanquestion“ (1886) vertritt.
Im Grunde blieb Eleanor wie auch ihre Schwestern mit der Haltung ihrer Mutter als Frau identifiziert und lehnte sich nie wirklich gegen die Tyrannei des Vaters oder gegen die doppelte Moral von Edward Aveling auf. Eleanor lernte wenig wie ihre Mutter und ihre Schwestern, sich gegen die Männer, die sie liebte, aufzulehnen.
Auch dann, wenn sie eigene Wege zu gehen versuchte, orientierte sie sich an der Haltung und den Ansichten der ihr am nächsten stehenden Männer. Solidarität mit anderen Frauen, gemeinsamer Kampf gegen die Tyrannei der Männer kam ihr gar nicht in den Sinn, so wenig wie sie Werte vertreten oder ein weibliches Selbstverständnis entwickeln konnte, das nicht den Ansichten ihrer männlichen Vorbilder entsprach. Frauen, wie ihre Mutter und ihre Schwester Jenny, liebte und bemitleidete sie, aber Vorbilder waren sie, verglichen mit den Männern, die sie verehrte, kaum. Die Briefe der Marx-Töchter muten in Ton und Inhalt sehr modern an. Die Probleme dieser Frauen und die Art, wie darüber gesprochen wird, unterscheiden sich nur wenig von denen der Frauen heute.
Ein von den Vorstellungen der Männer unabhängiges Selbstverständnis aufzubauen, ist offenbar auch und gerade für die Frauen/Töchter, der im Klassenkampf engagierten Männer ein langwieriger Prozeß, der noch keineswegs abgeschlossen ist.
Margarete Mitscherlich-Nielsen
Aus © EMMA 7/1981