Die Amerikanerin Margaret Mead, 1901 geboren, gehört zu den bekanntesten Anthropologen und Ethnologen unserer Zeit. Sie untersuchte die Lebensbedingungen, Sitten und Verhaltensweisen einer Anzahl primitiver Völker, darunter nordamerikanische Indianerstämme und sieben Südseekulturen. Sie lernte deren Sprachen und bemühte sich in einzigartiger Weise darum, sich in ihre für einen Amerikaner oder Europäer oft schwer verständlichen Verhaltensweisen und Lebensformen einzufühlen.
Mit den Unterschieden im Verhalten der Geschlechter hat sich Margaret Mead ausgiebig beschäftigt. Es lag ihr daran, Genaueres darüber zu erfahren, wie weit die unterschiedlichen Charaktereigenschaften von Mann und Frau sich als biologisch bedingt herausstellten oder durch die Einflüsse der jeweiligen Kulturen geformt wurden.
Bei der Untersuchung der sieben Südseevölker zum Beispiel war nicht zu übersehen, daß das, was als „weiblich“ und „männlich“ bezeichnet wurde, sich von Stamm zu Stamm unterschied, nicht selten geradezu gegensätzlich war. Nach den Maßstäben der westlichen Welt verhielten sich die Männer oft „weiblich“ und die Frauen „männlich“. Oder aber es bestand eine Mischung von sogenannten geschlechtsspezifischen Eigenschaften, wie sie in dieser Zusammensetzung in der westlichen Welt nicht bekannt war.
Dennoch unterschieden sich in allen Stammesgemeinschaften die Verhaltensweisen der« Männer von denjenigen der Frauen. Ihre geschlechtsspezifischen Aufgaben, mochten sie noch so von den uns bekannten abweichen, strukturierten in typischer Weise das Zusammenleben der einzelnen Stammesgemeinschaften.
„Die Beziehungen zwischen Männern und Frauen, Eltern und Kindern sind die entscheidenden Bereiche menschlicher Beziehungen überhaupt. So wie diese Beziehungen vorgezeichnet wurden, so werden sie dem Kinde an der Mutterbrust weitergegeben, das, noch ehe es gehen lernt, einen ganz bestimmten Begriff der Geschlechtererziehung in sich aufnimmt und andere Begriffe auszuschließen lernt“, so Margaret Mead in ihrem Buch „Mann und Weib“.
Liest man die Lebensgeschichte Margaret Meads, ist man geneigt, auch an sie selber anthropologische und/oder psychologische Maßstäbe anzulegen und zu verstehen zu suchen, auf welche Weise Kindheit und Jugend auf die spätere Entwicklung von Margaret Mead einwirkten.
Sie wurde als älteste Tochter eines Universitätsprofessors in Philadelphia geboren. Ihre Mutter, die als Studentin heiratete, nahm während ihrer Ehe das Studium wieder auf und promovierte, als sie Mutter von fünf Kindern war. Später beteiligte sie sich aktiv an der Lösung zahlreicher sozialer Probleme und publizierte darüber viele Artikel.
Trotz der- Anerkennung, die ihr ihre Arbeit einbrachte, spielte sie in den Augen ihrer Tochter Margaret in der Familie eine untergeordnete Rolle. Der Vater, der mit tyrannischer Selbstverständlichkeit die Aufmerksamkeit der Familie auf sich lenkte, stand offenbar höher in ihrer Achtung. Von ähnlicher Bedeutung war die Großmutter, die beständiger und einfühlender als der Vater und wohl auch als die Mutter war und mit der sich Margaret Mead ganz offensichtlich weitgehend identifizierte.
Auffallend für die Familie war, daß sie fortwährend umzog. Für den Amerikaner ist das allerdings in keiner Weise so ungewöhnlich, wie das dem deutschen Leser erscheinen mag. Im Sommer bewohnten sie ein Haus auf dem Lande, im Winter zog die Familie mit dem Vater in die Nähe seiner Universität, Frühjahr und Herbst verbrachte sie auf einem Besitz, der ihr gehörte und den Margaret Mead als ihre eigentliche Heimat anzusehen gewohnt war. Man hat ihre Fähigkeit, sich überall schnell zu Hause zu fühlen und sich in die verschiedenen Volksstämme und ihre Sprachen erstaunlich differenziert einfühlen zu können, in Zusammenhang damit gebracht, daß sie sich schon als Kind an immer neue häusliche und mitmenschliche Beziehungen zu gewöhnen hatte.
Eines ist jedoch auffällig: sie hatte im Laufe ihres Lebens immer wieder die Tendenz, um sich herum eine Art Großfamilie zu errichten, gemeinsam mit Freunden große Häuser zu bewohnen, in denen sie ein Zimmer für sich einrichtete, das sie ganz als ihr eigenes anerkannt wissen wollte. Ähnlich bezeichnete sie auch über viele Jahre ihres Lebens ein Zimmer im American Museum of Natural History, dessen Assistent Curator für Ethnologie sie war, als ihr Zuhause.
Sie war das älteste von fünf Kindern. Nach ihr wurde ein Bruder geboren und später noch drei Schwestern, von denen eine als kleines Kind starb. Schon früh fühlte Margaret Mead sich als die Bestimmende innerhalb der Geschwisterreihe, meinte den Bruder zu beherrschen und hatte Schuldgefühle, wenn er gesundheitlich anfällig und weniger robust als sie war. Bei einer Frau, die sich über viele Jahre ihres Lebens mit den familiären Zusammenhängen und Problemen der unterschiedlichsten Völker befaßt hat, fällt auf, daß sie den Problemen in der eigenen Familie eher aus dem Wege geht. Rivalitäten in der Familie, offensichtlichen Benachteiligungen gegenüber, denen sie als Mädchen ausgesetzt war, stellt sie sich oft blind. Ein Beispiel: Aus der Selbstdarstellung ihrer Kindheit geht deutlich hervor, daß der Bruder vom Vater, der, wie erwähnt, innerhalb der Familie die wichtigste Rolle spielte, bevorzugt wurde. Margaret Mead betont aber dennoch immer wieder, daß sie nicht weniger erwünscht war als ihr Bruder und daß sie niemals darunter gelitten habe, „nur“ ein Mädchen zu sein.
Folgt man den Berichten ihrer Kindheit und später denjenigen ihrer Zeit als Studentin, als Ehefrau und als Wissenschaftlerin, glaubt man Wiederholungstendenzen beobachten zu können, die aus Identifikationen mit Mutter und Großmutter und aus ungelösten Kindheitsproblemen in der Beziehung zum Bruder stammen. Allerdings war sie im Gegensatz zur Mutter imstande, sich wiederholt von einem Mann zu lösen, von dem sie sich innerlich entfernt hatte. Die intellektuelle Zusammenarbeit mit ihren männlichen Partnern war ihr von größter Bedeutung. Dabei identifizierten sich ihre Ehemänner mit ihr und ihren Interessen zeitweilig mehr als sie sich mit ihnen. Sie hat zweifellos besser gelernt als ihre Mutter, sich zu wehren.
Bis auf den ersten waren die Männer, die sie heiratete, immer um einige Jahre jünger als sie. Fand hier eine Wiederholung der Beziehung zu ihrem jüngeren Bruder statt? Er war einer der wichtigsten Spielkameraden ihrer Kindheit, ihr jedoch an Vitalität und Durchsetzungskraft unterlegen. Ihr zweiter Mann, Reo Fortune, beklagte sich laut ihrer Darstellung darüber, daß er nach der Eheschließung mit ihr nie mehr in der Lage sein werde, Bücher zu schreiben, die als ausschließlich von ihm stammend anerkannt würden. Reo Fortune wird in manchem ihrer Berichte übrigens ähnlich tyrannisch und, was die Leistung und die Stellung der Frau betrifft, ähnlich einfühlungslos wie der Vater geschildert. Alle drei Ehen werden geschieden, es bleiben aber freundschaftliche und wissenschaftliche Beziehungen zu den früheren Ehemännern ein Leben lang bestehen. Mit Reo Fortune und Gregory Bateson unternimmt sie gemeinsam die meisten ihrer anthropologischen und ethnologischen Forschungsreisen. Beide sind aber auch ihre Rivalen; das will sie, so scheint es, nicht recht wahrhaben. So wenig wie sie in ihrer Kindheit realisieren wollte, daß auch ihr jüngerer Bruder ein Konkurrent um die Liebe der Eltern für sie gewesen ist.
Die Autobiographie Margaret Meads erscheint in der Reihe „neue frau“. Ist Margaret Mead eine „neue Frau“? Und wenn ja, in welcher Beziehung? Ohne Zweifel hat sie sich durch ihre anthropologischen und ethnologischen Forschungen große Verdienste erworben. Indem sie die Geschlechtsbeziehungen in den verschiedenen Kleinkulturen untersuchte und miteinander verglich, konnte sie zeigen, daß es biologisch begründete, unveränderbare geschlechtsbedingte Eigenschaften und Daseinsnormen nicht gibt. Dadurch hat sie dazu beigetragen, daß sich das Selbstverständnis der Frauen in unserer westlichen Welt geändert hat. Ihre wissenschaftliche Arbeit bekräftigte, daß eine Frau nicht als Frau geboren, sondern dazu gemacht wird, das heißt, daß unsere Erziehung und die jeweiligen kulturell bedingten Ansichten über „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ uns bestimmte Verhaltensweisen aufzwingen.
Dennoch ist Margaret Mead keine engagierte Feministin im heutigen Sinn. Gegenseitige Rücksichtnahme der Geschlechter aufeinander ist ihr Ideal. Sie hat eher Angst vor zu viel Erfolg, Angst davor, damit Männer zu erschrecken und deren Selbstgefühl zu untergraben.
Da sie selbst sich nicht unterdrückt fühlte, oder zumindest nicht wahrhaben wollte, daß sie als kleines Mädchen im Verhältnis zum Bruder von den Eltern weniger Aufmerksamkeit erfuhr, war ihr der Kampf der Frauen um ihre Eigenständigkeit und ihre Gleichberechtigung von eher sekundärer Bedeutung. Ihre wiederholte Betonung, daß das kleine Mädchen Angst vor seiner größeren Begabung haben müsse, Angst davor, den Knaben damit zu schädigen, scheint in der Tat eigenen kindlichen Schuldproblemen zu entstammen und darüber hinaus kindliche Rivalitäten und Feindseligkeit dem nach ihr geborenen Bruder gegenüber abzuwehren.
Eine Festlegung dessen, was in einer bestimmten Gesellschaft als männlich, was als weiblich zu gelten habe, ist nach ihrer Ansicht für die Strukturierung jeder Gesellschaft notwendig. Aber nicht selten widerspricht sie sich. Einerseits haben wir durch sie erfahren, daß die meisten Kulturen unterschiedliche oder gar gegensätzliche Auffassungen von „weiblich“ und „männlich“ hervorbringen, dann aber konfrontiert sie uns andererseits mit eigenen Normvorstellungen aus ihrer bürgerlichen amerikanischen Umwelt von „typisch“ weiblichen Eigenschaften, wie zum Beispiel derjenigen der Intuition, die sie anscheinend als unabhängig von Erziehung und Kultur ansieht.
Sie setzte sich, wie ihre Mutter und ihre Großmutter, bewußt für alle ein, die sie unterdrückt empfand, und kämpfte wie diese deswegen auch gegen Vorurteile, wie sie in unserer patriarchalisch bestimmten Kultur Frauen gegenüber tief verwurzelt sind. Innerlich war sie aber nicht dazu bereit, für sich zu akzeptieren, daß in unserer Kultur die Frau – im Verhältnis zum Mann – als zweitrangig erlebt wird. Mit Recht, denn sie kämpfte ein Leben lang mit Erfolg dagegen und wurde weltberühmt. Die theoretische Verarbeitung ihrer Erfahrungen blieb aber meines Erachtens von den eigenen Konflikten und deren Verdrängungen nicht unberührt. Wie kann es auch anders sein.
Ist sie also eine „neue Frau“? Was ihre Fähigkeiten, ihre Durchsetzungskraft und ihre geistige Selbständigkeit anbetrifft ganz sicherlich, obwohl es Frauen dieser Art durch die Jahrhunderte immer wieder gegeben hat. Weitgehend bleibt sie mit männlichen Erfolgs- und Leistungsidealen identifiziert. Ihre Glorifizierung der Frau als Mutter wirkt auf dem Hintergrund der eigenen Lebenspraxis, in der die wissenschaftliche Arbeit stets vorrangig war, etwas gekünstelt. Aber wenn sie auch die Wertsysteme der eigenen Kultur, das was dort als gut und richtig für Mann und Frau gilt, zu wenig in Frage stellt, so hat sie doch durch ihre ethnologische Pioniertätigkeit Erkenntnisse gesammelt und uns gelehrt, Vergleiche mit Frauen anderer Kulturen vorzunehmen und Fragen über Sinn und Wert der jeweilig als „weiblich“ propagierten Verhaltensweisen zu stellen, die uns ohne ihre Forschungen so leicht nicht in den Sinn gekommen wären.
Margarete Mitscherlich-Nielsen
Aus © EMMA 2/1979