Karen Horney – Freuds erste Rebellin

Margarete Mitscherlich: Karen Horney – Freuds erste Rebellin – aus EMMA 12/1978

Freuds Ansichten über die weibliche psychosexuelle Entwicklung stießen nicht nur bei Feministinnen, sondern auch bei manchen Psychoanalytikern auf Widerspruch. In den Jahren zwischen 1920 und 1940 kam es darüber zwischen Psychoanalytikern zu lebhaften, ja manchmal heftigen Diskussionen, die dann aber – letztlich ohne Klärung – im Sande verliefen. Erst im letzten Jahrzehnt, mit der Neubelebung der Frauenbewegung und dem intensivierten Ringen der Frau um eine neue Selbstfindung, ist auch innerhalb der Psychoanalyse die Diskussion um die weibliche Entwicklung – wenn auch zögernd – wieder aufgenommen worden.

Zu denen, die schon Anfang der 1920er Jahre mit manchen der Ansichten Freuds über die Weiblichkeit nicht einverstanden waren, gehörte Karen Horney. Sie wurde 1885 geboren, stammte aus einer liberalen und offenbar weitgehend emanzipierten Familie mit avantgardistischen Vorstellungen von der Erziehung eines Mädchens. Denn ihre Mutter ermutigte sie, Medizin, Psychiatrie und später Psychoanalyse zu studieren – ein ungewöhnlicher Rat für die damalige Zeit. In Berlin wurde sie am Psychoanalytischen Institut ausgebildet. Die Psychoanalytiker, die den größten Einfluß auf sie ausübten, waren Karl Abraham und Hanns Sachs, die zum Freundeskreis Freuds zählten und enge wissenschaftliche Mitarbeiter von ihm waren.

Im Laufe ihres späteren Lebens in den USA löste sie sich von der Psychoanalyse Freuds. Das war noch nicht der Fall, als sie die in dem Buch „Die Psychologie der Frau“  gesammelten Aufsätze schrieb, die als die gedankenreichsten und originellsten ihrer Arbeiten angesehen werden können. In ihnen setzt sie sich differenziert und kenntnisreich mit den auf psychoanalytischer Grundlage gewonnenen Forschungsergebnissen über die weibliche Psychologie auseinander.

Bekanntlich beschäftigte sich Freud erst spät mit der psychischen Entwicklung der Frau. Denn obwohl er seine Entdeckung des ödipalen Konfliktes in der Behandlung von Frauen machte, die an Hysterie litten, und seine ersten Falldarstellungen fast alle Frauen waren, orientierte sich seine spätere psychosexuelle Entwicklungstheorie vor allem an der Entwicklung von Männern. Erst 1925 in seiner Arbeit „Einige psychologische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschiedes“, befaßte Freud sich eingehender mit der weiblichen Entwicklung. Dazu hatte ihn unter anderem auch die Arbeit Karen Horneys „Zur Genese des weiblichen Kastrationskomplexes“ (1923) veranlaßt, in der sie Freuds Beobachtungen eines Penisneides beim kleinen Mädchen zwar nicht leugnete, aber dessen Herkunft und Bedeutung für das gesamte Leben der Frau in Frage stellte.

Nachdem Freud entdeckt hatte, daß nicht nur die äußeren Ereignisse und Erlebnisse sich in der Psyche des Menschen niederschlagen, sondern auch die Phantasien, insbesondere des Kindes, indem sie äußere Ereignisse uminterpretieren, eine neue psychische Realität schaffen, konzentrierte er sich vor allem auf die innerpsychischen Folgen von verdrängten Wünschen und Triebbedürfnissen und deren Wirkung auf die psychische Verarbeitung der äußeren Realität.

Damit trat die Bedeutung des Unbewußten in den Mittelpunkt seiner Forschung, die Folgen der unterschiedlichen Erziehung von Knabe und Mädchen und der kulturellen Werteinstellung der Frau gegenüber fanden allerdings keine entsprechende Beachtung.

Ein Verdienst Karen Horneys ist es, daß sie auf die Bedeutung der äußeren Wirklichkeit für die Entwicklung der Frau, das heißt auf die kulturellen und gesellschaftlichen Haltungen ihr gegenüber wieder größere Aufmerksamkeit richtete. Ihr lag es vor allem daran, die Mischung von objektiven Ereignissen und subjektiver psychischer Verarbeitung genauer zu verstehen und darzustellen. Erst später in den USA wollte sie nicht mehr recht wahrhaben, daß äußere Ereignisse, indem sie psychisch verarbeitet werden, eine neue seelische Realität und sich wiederholende Konflikte schaffen.

Nicht zu Unrecht griff deswegen Theodor W. Adorno ihr 1939 erschienenes Buch „Neue Wege in der Psychoanalyse“ heftig an. Ihre Form der Emanzipation sei, so schrieb er, im Grunde nichts als Anpassung an bestehende Verhältnisse. Die neuen und bahnbrechenden Forschungen Freuds, seiner grundlegenden Kritik an der Gesellschaft und ihrer Wirkung auf die menschliche Psyche würde damit der Stachel genommen.

Denn – so Adorno – mit dem Glauben, daß eine Gesellschaft durch relativ oberflächliche Manipulationen leicht zu verändern sei, bestünde die Gefahr, daß das ganze differenzierte Wissen Freuds von der komplizierten psychischen Verarbeitung der äußeren Realität und der Rückwirkung einer dadurch gebildeten neuen psychischen Realität auf die gesellschaftlichen Verhältnisse verlorengehen könnte. Denn gerade weil diese in der Psyche ihrer Mitglieder verankert sind, lassen sich bestimmte Wertnormen und Gesellschaftsordnungen so leicht nicht verändern.

Eine meiner Meinung nach berechtigte Kritik. Wir haben ja gesehen, daß zum Beispiel die gesetzlich eingeführte Gleichberechtigung noch lange keine wirkliche Gleichberechtigung geschaffen hat. Auch der Sozialismus hat die Situation der Frau, ihre Minderbewertung, kaum geändert. Ohne mühevolle Durcharbeitung und Bewußtmachung tradierter Haltungen und Einschätzungen der Frau gegenüber wird sich die Beziehung zwischen den Geschlechtern kaum verbessern lassen.

In den Arbeiten des hier zur Diskussion stehenden Buches steht Karen Horney die differenzierte Kenntnis über die Wirkung des Unbewußten auf die Verarbeitung unserer Erfahrungen und Erlebnisse noch voll zur Verfügung. Sie hegte an der Bedeutung der frühen Kindheitserlebnisse für die spätere Entwicklung des Menschen keinen Zweifel, war aber dennoch davon überzeugt, daß die Psychoanalyse soziale Verhältnisse und Probleme der Gegenwart, deren Einfluß auf die Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit unterschätze.

Mit Recht wehrte sie sich auch gegen den biologischen Determinismus, dem Freud gelegentlich anheimfiel, wenn er der Anatomie zu viel Gewicht für die Entwicklung des Menschen beimaß. Denn obwohl Freud sich nicht mit der Biologie und der Anatomie an sich beschäftigte, sondern mit deren Umwandlung und Verarbeitung durch die Psyche des Menschen, prägte für ihn die psychische Reaktion auf den anatomischen Unterschied die Frau mehr, als ihre geschlechtsspezifische  Erziehung und die dieser entsprechenden kulturellen Wertnormen.

Meines Erachtens übersah Freud, daß bei unserer Art der Erziehung das männliche Geschlechtsorgan als Symbol für die höherbewertete Männlichkeit schlechthin begriffen wird, und es deswegen fast unmöglich ist, keinen Neid auf den Mann zu entwickeln. Den kindlich direkten Neid auf das männliche Genitale, den man beim kleinen Mädchen beobachten kann, sieht man im späteren Leben einer Frau nur noch selten. Es bleiben aber die daraus sich ableitenden Gefühle der Minderwertigkeit oder der Ablehnung der eigenen Weiblichkeit bestehen.

In einem anderen Aufsatz, „Die Flucht aus der Weiblichkeit“ (1926), stellte Karen Horney dar, daß in unserer Zivilisation alle Institutionen von Männern beherrscht seien, Mensch mit Mann gleichgestellt würde. Dabei hätten sich die Frauen den stärkeren Männern und ihren Wünschen und Vorstellungen von sich angepaßt und wären zu dem Glauben gelangt, daß diese Anpassung tatsächlich ihr wahres Selbst sei. Auch in der Psychoanalyse würde die weibliche Entwicklung nur durch männliche Augen gesehen und mit männlichen Maßstäben gemessen. Die Frau sei von Geburt an mit ihrer Minderwertigkeit konfrontiert und wende sich deswegen zwangsweise gegen die Weiblichkeit, entwerte die Mutter wie auch deren Fähigkeit zu stillen und zu gebären, nur um dadurch letztlich auch sich selbst keinen Wert mehr geben zu können. Damit vertrat sie Gedankengänge, die in der Psychoanalyse heute als sehr fortschrittlich gelten.

Indem die Frau sich nach dem patriarchalischen Ideal der Gesellschaft, in der sie lebe, ausrichtet, pflegt sie auch die Liebe zu überbewerten. „Mann“ verlangt von ihr, daß ihr einziger Wunsch sei, geliebt zu werden, einen Mann zu lieben, ihn zu bewundern und ihm zu dienen, sich ihm anzupassen. Diese Haltung entspricht – so betont Horney mit Recht – keineswegs einem natürlichen Wunsch der Frau, sondern ist die Folge eines ihr aufgezwungenen Ideals, mit deren Verinnerlichung sie vor allem der Selbstachtung des Mannes dient. Nur wenn in einer Gesellschaft die heterosexuelle Beziehung derartig als einziger sinnvoller Lebensinhalt einer Frau dargestellt wird, entwickelt sich die als „typisch weiblich“ beschriebene Rivalität der Frauen untereinander.

Horney bezweifelt auch die biologische Grundlage des sogenannten weiblichen Masochismus, wie sie überhaupt in Frage stellte, ob es tatsächlich so etwas wie angeborene weibliche Eigenschaften gibt (zu denen auch der Mangel an moralischer Unterscheidungsfähigkeit, an Logik, an Abstraktions- und Urteilsfähigkeit etc. gezählt werden). Sie war als erste überzeugt von der Abhängigkeit der weiblichen Verhaltensweisen von den kulturspezifischen Erziehungs- und Wertnormen. Das ist ihr Verdienst!

Dem Psychoanalytiker sind auch Neidgefühle des Mannes der Frau gegenüber gut bekannt, zum Beispiel der Gebärneid. Er stammt aus der frühen Kindheit und ist eine Folge seiner Hilflosigkeit der als übermächtig erlebten Mutter gegenüber. Sich mit seinem Neid auf die Frau zu konfrontieren, fällt dem Mann aber in einer Welt, in der er gelernt hat, die Frau zu verachten, noch wesentlich schwerer als der Frau.

Er sucht deswegen für seine aus der frühen Kindheit stammenden Angst, Wut und Aggressionsgefühle der Frau gegenüber eine Rechtfertigung, indem er diese als Hexe oder Hure, als verabscheuungswürdig oder doch zumindest lächerlich und unzurechnungsfähig bezeichnet. Das sind Projektionen der eigenen destruktiven Phantasien der Frau gegenüber, die wiederum Vergeltungsängste hervorrufen.

Diese Bedeutung des Mutter-Kind-Verhältnisses für die späteren Entwertungen der Frau spielen bei den modernen Psychoanalytikern eine große Rolle, aber es scheint nur wenigen bewußt zu sein, daß Karen Horney das, was heute als brandneue Erkenntnis gilt, schon vor 50 Jahren dargestellt hat.

Die in diesem Buch zusammengefaßten Aufsätze zeigen, daß Karen Horney einfühlend und kreativ mit ihren in den Kliniken gesammelten Erfahrungen umgehen konnte. Sie entdeckte dabei psychische Vorgänge, die über lange Jahre vergessen wurden, heute aber wieder im Mittelpunkt des psychoanalytischen Interesses stehen. Ihr lag es daran, eine Brücke zwischen individuellen Erlebnissen, deren intrapsychischer Verarbeitung und den gesellschaftlichen und kulturellen Zuständen, die bestimmte Verhaltensmuster prägen, zu vermitteln. Zweifellos stellen diese Arbeiten eine Pionierleistung dar, mit deren Hilfe es möglich wurde, zwischen der Selbstwahrnehmung von sensibilisierten Frauen einerseits und den Erfahrungen andererseits eine Brücke zu schlagen.

Margarete Mitscherlich-Nielsen

Aus © EMMA 12/1978