Was hat das chronisch geringe Selbstwertgefühl von Frauen mit der Eigenliebe, mit dem Narzissmus zu tun? Margarete Mitscherlich untersucht die Zusammenhänge zwischen inneren und äußeren Zwängen.
Die Psychoanalyse hat sich zuerst mit den unbewußten Vorgängen im Menschen beschäftigt, die seinen bewußten Motivationen zugrunde lagen. Im Umgang mit Patienten erkannten die Psychoanalytiker aber bald, daß sie wenig erreichten, wenn sie diesen die unbewußten Inhalte, die sich hinter ihren Worten und Handlungen oder neurotischen Symptomen verbargen, direkt mitteilten. Die Patienten konnten oder wollten verständlicherweise nicht verstehen, was ihnen da Unbequemes, Kränkendes oder gar Angsterregendes mitgeteilt wurde, da das die Meinung, die sie bisher von sich selbst hattten, infrage stellte. Ihr „Ich“ wehrt sich mit aller Kraft dagegen. Sie haben ja schließlich ein Leben lang ein System der Abwehr gegen Wahrnehmungen und Erkenntnisse aufgebaut, die Angst oder Schmerzen hätten auslösen können. Jeder Mensch hat solche für ihn typischen Abwehrsysteme, die seine Reaktionsweisen wesentlich beeinflussen.
Der praktizierende Psychoanalytiker sah sich also gezwungen, sich mehr mit dem Ich und dessen Abwehrmechanismen zu beschäftigen, um herauszufinden, wie er seinem Patienten besser helfen konnte. Er lernte dadurch, wie und auf welche Weise er sich ihnen seelisch nähern durfte, um ihnen verständlich zu machen, was sie krank oder ihnen das Leben unnötig schwer machte. Nach der „Psychologie des Unbewußten“ entstand jetzt die „Psychologie des Ich“.
In letzter Zeit sind es nun sogenannte „narzißtische Neurosen“, mit denen sich der Psychoanalytiker zunehmend konfrontiert sieht und über die es schon eine ausgedehnte Literatur gibt. Man wird sich in der Psychoanalyse zunehmend über die Bedeutung im klaren, die der Aufbau eines stabilen Selbstwertgefühls für die weitere Entwicklung des Menschen hat. Es wurde in den letzten Jahren in der Psychoanalyse viel darüber diskutiert, ob die Krankheit des modernen Menschen, sein Gefühl der Sinn- und Beziehungslosigkeit nicht vor allem in einer Störung seines Selbstgefühls und seiner Selbstachtung zu suchen sei.
Was nun aber ist „narzißtisch“? Der Begriff stammt aus der Sage von Narzissus, der, als er sein Spiegelbild in einem Brunnen erblickte, sich darin verliebte. Die Liebe also, die man nicht einem anderen Menschen, sondern dem Bild von sich selbst entgegenbringt, ist Narzißmus – ein Begriff, der oft in entwertendem Sinne benutzt wird. Dabei vergessen die meisten, daß nur diejenigen, die sich selbst ein Stück weit lieben und achten, auch dazu fähig sind, andere lieben zu können. Ein gesunder Narzißmus, das heißt, die Möglichkeit, sich selber einen Wert zu geben, muß darum von seinen pathologischen Verzerrungen unterschieden werden. Pathologisch wäre, wenn zum Beispiel mitmenschliche Beziehungen ausschließlich dem Zweck der eigenen Selbsterhöhung oder Selbstbestätigung dienen oder – im schlimmsten Falle – kaum noch eine Rolle spielen.
Narzißmus ist also an sich etwas Positives! Wenn aber Frauen als narzißtisch bezeichnet werden, ist damit so gut wie immer etwas Abwertendes gemeint. Viele Psychoanalytiker halten Frauen für unfähig, mit ihrem übermäßigen Bedürfnis nach Bewunderung fertig zu werden. Aufgrund ihrer egozentrischen Haltung seien Frauen zur Solidarisierung mit dem eigenen Geschlecht kaum in der Lage.
Diese Interpretation ist nicht neu. Schon Freud beschäftigte sich eingehend mit dem Problem des Narzißmus, allerdings vor allem mit dessen negativen Aspekten. Nach ihm ist die Frau narzißtischer als der Mann, da sie mit der Kränkung, keinen Penis zu besitzen, der als Symbol der Macht und Vollkommenheit gilt, nicht fertig werden kann. Freud: „Wir schreiben also der Weiblichkeit ein höheres Maß von Narzißmus zu, das noch ihre Objektwahl beeinflußt, so daß geliebt zu werden dem Weib ein stärkeres Bedürfnis ist, als zu lieben. An der körperlichen Eitelkeit des Weibes ist noch die Wirkung des Penisneides mitbeteiligt, da sie ihre Reize als späte Entschädigung für die ursprüngliche sexuelle Minderwertigkeit um so höher einschätzen muß.“
Die „anatomische Minderwertigkeit“ wird auch heute noch von vielen Analytikern als Ursache für eine tiefgehende Selbstunsicherheit der Frau angesehen. Dabei wird großzügig übersehen, daß das keine natürlichen, sondern daß es kulturelle Gründe hat: es ist unsere Art der Erziehung, die Bevorzugung des männlichen Geschlechtes in unserer Gesellschaft, die dazu führt, daß das kleine Mädchen in der Tat den Besitz eines Penis als Symbol für den Wert eines Menschen erleben und das Gefühl der eigenen Minderwertigkeit durch Bestätigung von außen kompensieren muß.
Als zweite Ursache dafür, daß die Frau ihren negativen narzißtischen Bedürfnissen ausgeliefert bleibe, wird die ungenügende, zumindest ambivalente Liebe der Mutter angesehen. Der französische Analytiker Grunberger zum Beispiel meint, daß das kleine Mädchen niemals imstande sei, sich seine narzißtische Bestätigung selber zu geben, da ihm die uneingeschränkte Anerkennung der Mutter versagt bliebe. Da Mutter und Tochter keine adäquaten Sexualobjekte füreinander seien, sei die Liebe zwischen beiden niemals eindeutig, sondern immer ambivalent.
Bei Grunberger wie bei Freud werden also um unabänderliche Gegebenheiten – bei dem einen um biologisch-sexuelle, bei dem anderen um anatomische – die Ursache für die tiefgehenden Minderwertigkeitsgefühle und der daraus sich entwickelnden narzißtischen Selbstbezogenheit der Frau angesehen. Nur die Geburt eines Sohnes gilt letztlich als Kompensation für das Selbstwertdefizit der Frau. Das Verhältnis von Mutter und Sohn ist darum nach Freud die vollkommenste aller menschlichen Beziehungen überhaupt. Hier erhält die Mutter plötzlich einen Wert, den er sonst den Frauen abspricht.
Die Bedeutung der Mutter für die Entwicklung ihrer Kinder, ob Junge oder Mädchen, ist mittlerweile von zahlreichen Psychoanalytikern erkannt und genauer erforscht worden. Von ihrer Einfühlung in deren Bedürfnisse ist die Entwicklung des Selbstwertgefühls bei Sohn und Tochter abhängig. Es wird als selbstverständlich angesehen, daß die Mutter sich weit mehr als der Vater in die kleinen Kinder einfühlen kann. Wenn etwas in deren psychischer Entwicklung schief geht, wird unweigerlich ihr dafür die Schuld zugeschrieben. Obwohl sie doch als „typisch“ narzißtisch angesehen wird, wird gleichzeitig von ihr ein hohes Maß an Einfühlungs- und Liebesfähigkeit verlangt.
Liest man manche der modernen Autoren genauer, die sich dafür einsetzen, daß dem Kinde wie dem Erwachsenen mehr narzißtische Bestätigung gegeben werden sollte, fällt einem bei aller Anerkennung dieser Bemühungen auf, daß den Störungen in der Entwicklung eines gesunden Narzißmus beim Mann weit mehr Aufmerksamkeit zuteil wird, als das bei der Frau der Fall ist. Das kommt wohl daher, daß einerseits die einfühlende Bewunderung des Kindes durch die Mutter als notwendige Grundlage für den Aufbau eines gesunden Selbstwertgefühls angesehen wird, man andererseits überzeugt davon ist, daß die Beziehung von Mutter und Tochter niemals wirklich befriedigend sein kann.
Der amerikanische Psychoanalytiker Heinz Kohut, der sich um die Erforschung des Narzißmus international einen Namen gemacht hat, hält es für erwiesen, daß für die Entwicklung des Selbstwertgefühls und der Integration der psychischen Strukturen zu einem eigenständigen Selbst die Bewunderung des Kindes durch die Mutter ausschlaggebend ist. Sie muß Verständnis für dessen Bedürfnis haben, sich selber zur Schau zu stellen, angestaunt zu werden, Begeisterung für seine Fortschritte bei ihr zu erregen etc.
Von ebenso großer psychischer Bedeutung sei es aber, daß dem Kind die Möglichkeit geboten wird, einen Erwachsenen zu idealisieren. Dafür sei vor allem der Vater zuständig, der seinem Kind gegenüber eine entsprechende Rolle einnehmen sollte. Nur kurz streift Kohut die Problematik der weiblichen Entwicklung. Er kommt zu dem Schluß, daß beim kleinen Mädchen wohl dem Knaben parallele Bedürfnisse vorliegen. Gelegentlich könne allerdings auch die Mutter die Idealisierungsbedürfnisse des kleinen Mädchens befriedigen.
Die bewundernde Mutter und der bewunderte Vater sollen dann im Laufe der kindlichen Entwicklung verinnerlicht werden, damit ein Kind Gefühle der Selbstachtung und der inneren Sicherheit aufbauen kann, die als Grundlage für die Entwicklung einer gefestigten Persönlichkeitsstruktur gelten. Was aber aus dem Mädchen werden soll, das nur – siehe Freud, Grunberger und viele andere Analytiker – Ambivalenz von der Mutter zu erwarten hat, das bleibt auch bei Kohut offen.
Faktisch erfahren in dem Modell Kohuts die männlichen Vorstellungen von der gesunden patriarchalischen Gesellschafts- und Wertordnung eine neue wissenschaftliche Begründung. Denn die Welt entspricht den kindlichen Bedürfnissen und erfüllt die Vorbedingungen für den Aufbau eines „heilen Selbst“ nur dann, wenn Bedingungen hergestellt sind, in denen der Vater idealisiert wird und die Mutter ihr Kind (das bedeutet heute vorwiegend ihren Sohn) bewundern kann.
Sehen wir uns die tatsächliche Entwicklung des Mädchens in unserer Kultur einmal genauer an: in der Tat neigt die Frau in selbstverständlicher Identifikation mit den Werten ihrer Gesellschaft dazu, die Geburt eines Sohnes derjenigen einer Tochter vorzuziehen. Entsprechend bewundert sie auch ihren Sohn meistens mehr als ihre Tochter. Das ist von entscheidender Bedeutung für das Kind. Denn in der frühkindlichen Periode, in der in unserer Kultur das Kind von seiner Mutter völlig abhängig ist, erleben beide Geschlechter sie als allmächtig. Sie wird gleichermaßen idealisiert und gehaßt, da Enttäuschungen unvermeidlich sind. Daß die Bewunderung durch eine so wichtige Person von größter Bedeutung ist, steht außer Zweifel.
Das kleine Mädchen wendet sich, sobald seine Wahrnehmungsfähigkeiten sich genügend entwickelt haben, um die unterschiedliche gesellschaftliche Bewertung der Geschlechter bewußt oder unbewußt zu erkennen, von der dadurch entwerteten und meist ihr gegenüber ambivalenten Mutter ab, beginnt ihren Vater zu idealisieren und versucht, seine Anerkennung zu gewinnen. Gleichzeitig nimmt sie aber das oft kindlich abhängige Verhalten ihres Vaters der Mutter gegenüber wahr, der die eigenen Kinder nicht selten als Rivalen erlebt und behandelt.
Manche Analytiker haben darauf hingewiesen, daß es die Abwehr gegen die frühkindliche Abhängigkeit von der als allmächtig erlebten Mutter ist, die als tiefere Ursache für die allgemeine Entwertung der Frau angesehen werden muß. Dazu gehört auch die Fixierung an die Vorstellung vom „typisch“ weiblichen Narzißmus, die im Grunde eine Projektion der männlichen Liebesunfähigkeit ist. Denn ein Mann pflegt sich von seinem Bedürfnis nach Verwöhnung und Bewunderung durch eine mütterliche Frau nur selten ganz lösen zu können und drängt deswegen auch in der Ehe seine Frau in die mütterlich-fürsorgende Rolle ihm gegenüber zurück. Er macht sie zur Mutter, nicht sie ihn zum Kind, wie Freud meinte, der sagte: „Selbst die Ehe ist nicht eher versichert, als bis es der Frau gelungen ist, ihren Mann auch zu ihrem Kind zu machen und die Mutter gegen ihn zu agieren.“
Ist also die Frau tatsächlich narzißtischer als der Mann oder aber ist sie im Gegenteil liebesfähiger als er? In unserer Kultur, bei unserer Art der Erziehung trifft beides zu! Das weibliche Selbstgefühl wurde zu oft gekränkt, als daß es nicht der narzißtischen Kompensation bedürfe, das heißt, sie muß mehr als der Mann gegen Gefühle der eigenen Minderwertigkeit ankämpfen und deswegen oft mehr als er darum besorgt sein, geliebt und anerkannt zu werden. Gleichzeitig muß man feststellen, daß die Fähigkeit der Frau, die Interessen der anderen über die eigenen zu stellen, heute größer ist, als das beim durchschnittlichen Mann der Fall ist. Das ist ihr schließlich von früh auf eingeprägt worden. Auch fehlt ihr die Tendenz, den Geschlechtspartner zum Sexualobjekt erniedrigen zu wollen.
Einerseits identifiziert sie sich also mit dem gesellschaftlich höher bewerteten Vater, andererseits verachtet sie ihn im Geheimen – auch das in Identifikation mit ihrer Mutter – wegen seiner kindlich egoistischen Abhängigkeit. Da aber der Vater auch ein „Selbst-Objekt“ ist, das heißt, ein Teil der eigenen kindlichen Person, ist sein Wert oder Unwert auch Wert oder Unwert des eigenen Selbst. Zu der zwiespältigen Einstellung der Mutter gegenüber gesellt sich jetzt eine ähnliche Ambivalenz im Verhältnis zum Vater. Indem sie auch ihn nur noch gebrochen bewundern kann, vermindert sich erneut das Gefühl des eigenen Wertes.
Oft ist ein grober, defensiver Narzißmus die Folge ihrer kindlichen Selbstwertstörung. Dann geht es ihr vor allem darum, den Neid des eigenen Geschlechtes und Bewunderung und Aufsehen beim anderen Geschlecht zu erwecken. Sie kann dann zu der Karikatur einer Frau werden, wie sie in der Männerpresse seit eh und jeh mit besonderem Vergnügen dargestellt wurde. Sie zieht sich auffällig an, möchte jedem Mann gefallen, interessiert sich vorwiegend für Kleider, Kosmetik und Konsum etc. Auch die Beziehung zu den Kindern und zum Ehemann dient ihr hauptsächlich dazu, den Mangel an eigenem Selbstwertgefühl zu kompensieren. Sie müssen erfolgreich sein, wo ihr der Erfolg versagt blieb.
Beide Geschlechter identifizieren sich anfänglich weiblich, das heißt, sie bauen eine psychische Struktur auf, indem sie die Funktionen der bedürfnisbefriedigenden, angstmildernden Mutter langsam verinnerlichen und dadurch Schritt für Schritt selbständiger werden. Nur diese ursprüngliche Identifikation mit der Mutter macht es dem Mann später möglich, sich seinen Kindern gegenüber „väterlich“ zu verhalten, es sei denn, er muß sich aufgrund der gesellschaftlichen Entwertung alles Weiblichen gegen diese Züge in ihm selbst zur Wehr setzen.
Viele Frauen wissen nicht, warum sie sich selbst nicht schätzen können. Nur indem sie sich der falschen Ideale von Weiblichkeit bewußt werden und sich von der falschen Vorstellung befreien, daß der Mann an sich wertvoller sei als die Frau, lernen sie, sich selbst, ihren Töchtern, dem eigenen Geschlecht generell die ihm gebührende Achtung entgegenzubringen! Bewußtwerdung ist also eine wesentliche Vorbedingung dafür, daß Frauen ein ihnen entsprechendes Selbstwertgefühl überhaupt erst entwickeln können und sich besser behaupten lernen.
Margarete Mitscherlich-Nielsen
Aus: © EMMA 5/1978