Sündenböcke

Die Gefahr eines erneuten Abglei­tens in eine Sündenbock-Mentalität, deren Atmo­sphäre von Menschenjagd und der damit verbun­denen falschen Gefühle einer Volksverbundenheit, ist gar nicht hoch genug einzuschätzen.

Es ist bekannt, daß der Zusammenhalt kleinerer oder größerer Gruppen von Menschen oder ganzer Völker besonders gut funktioniert, wenn sie einen gemeinsamen Feind besitzen. Manche Krisen, insbesondere solche ökonomischer Art oder auch von Wertorientierungen lassen massenhaft die Neigung entstehen, mit Hilfe einer neuen Feindorientierung innere Probleme und Zerrissenheiten zu übertünchen. Überall werden solche unbewußten psychischen Mechanismen benutzt.

In vielen von uns wird Angst wach, wenn sie von den Reaktionen auf die Entführung Kapplers, von symbolischen Judenverbrennungen von Offizieren einer bayerischen Militärakademie erfahren oder hören, daß in letzter Zeit deutsche Juden wieder nachts am Telefon mit dem Vergasungstod bedroht und den als Baader-Meinhof-Sympathisanten Ver­leumdeten ähnliche Todeswünsche ins Haus ge­schickt werden.

Diese untergründige Hetzstimmung hat sich nach der Ermordung Pontos, der Entführung Schleyers und dem vierfachen Mord in Köln im August und September dieses Jahres beängstigend intensiviert. Die sinnlosen und grausamen Ereignisse in der Terroristen-Szene werden seither von vielen dazu benutzt, eigene innere Bedürfnisse nach einem Sündenbock zu befriedigen.

Wer noch Kritik an Zuständen und Gesetzen der BRD zu äußern wagt, wer zum Beispiel gegen den Radikalenerlaß und für die Abschaffung des § 218 ist, gerät in Gefahr, als sogenannter „Sympathi­sant“ eingestuft zu werden. Empörung über jeden, der eine von der Mehrheit abweichende Meinung vertritt, ist die Forderung des Tages. Jeder, der Kri­tik an unserer Gesellschaft äußert, muß damit rechnen, als mitschuldig für die Entwicklung einer Terror-Szene angesehen zu werden. Wer nur nach­denkt, nur zu verstehen versucht, was der psycho­logische und historische Hintergrund der Terrori­sten sein könnte oder gar versuchte, mit ihren Mitgliedern, so lange es noch sinnvoll schien, Gesprä­che zu führen, wird und ist – laut FAZ vom 2.8.1977 – als Sympathisant, das heißt als eigent­lich Schuldiger zu verfolgen.

Die Gefahr besteht, daß sich ein McCarthyanismus deutscher Prägung entwickelt (die Zeit der Hexen­jagd gegen Intellektuelle und Kommunisten im Amerika der fünfziger Jahre). Ich erinnere mich noch gut daran, daß nach der Katastrophe des Hit­ler-Reiches, nach der totalen Inflation aller bishe­rigen Werte in Deutschland viele versuchten, aus diesem Vakuum herauszukommen: Sie identifi­zierten sich nach Jahrzehnten des Faschismus bruchlos mit den Werten der amerikanischen Sie­germacht.

Die USA wurden für ein Großteil der deutschen Jugend zum Leitbild. Als es dann – ausgelöst durch den Vietnam-Krieg – unübersehbar wurde, daß Ideal und Wirklichkeit auch dort auseinanderklafften, war die Enttäuschung und die Resignation groß. Die geistig und politisch interessierte Jugend konnte hier wie dort nicht mehr übersehen, in wel­chem Ausmaß weiterhin doppelte Moral, Heuche­lei und Eigennutz die Verwirklichung der vorgege­benen demokratischen Ideale behinderte.

Viele junge Menschen waren und sind überzeugt, schon wieder in einem präfaschistischen Staat zu leben, in dem die Wahrheit vertuscht wurde, sobald sie den Mächtigen schadete.

Was daraus geworden ist, daß manche dieser um wichtige gesellschaftliche Veränderungen uneigennützig ringender junger Leute versagten oder in sinnlosen Aktivismus getrieben wurden, haben wir alle miterlebt, ohne es genügend verstanden zu ha­ben. Besonders erschreckte mich das Abgleiten ei­niger ursprünglich tief engagierter junger Men­schen in die Terroristen-Szene – ich konnte darin bisher kaum etwas anderes entdecken, als eine wahnhaft verzerrte Wahrnehmung der gegenwärti­gen politischen Situation und jeder vernünftigen Argumentation unzugänglicher Fanatismen.

Der Terrorismus ist international. Aber in Deutschland hat er doch eine besondere Färbung. Dort scheinen die Aktivisten die Gegenwart mit der Vergangenheit zu verwechseln. ln der Zeit Hit­lers und Himmlers hätten ihre Aktionen in der Tat der Befreiung von Massenmördern und von einem unmenschlichen System gedient. Heute führen sie nur dazu, regressive Verhaltensweisen zu aktivie­ren, denn sie haben erreicht, daß erneut der Ruf nach Todesstrafe ertönt und die Sündenbock-Men­talität neu belebt wird.

Alles, was unbequem ist, zum Umdenken und zu notwendigen Veränderungen führen müßte, kann mit dieser Einstellung, wenn sie massenhaft Unter­stützung findet, blockiert werden und zu einem Rückfall in die Barbarei führen.

Die Handlungen einiger weniger kriminell gewor­dener Aktivisten haben genügt, um einen großen Teil der Öffentlichkeit einem bedrückenden Meinungsterror auszusetzen. Die Reaktionen – nicht nur mancher Politiker, sondern großer Bevölke­rungsteile – lassen befürchten, daß das massenhaft entstandene Bedürfnis nach Schuldigen alt be­kannte sozialpsychologische Mechanismen unseres Volkes dauerhaft wieder zum Leben erweckt. End­lich kann man sich wieder in gemeinsamer Empö­rung zusammenfinden, „moralischer“ Konsensus wird genossen, man sitzt wieder in einem Boot. Gefühle der Orientierungs- und Sinnlosigkeit schei­nen zeitweilig überwunden: man hat ja seinen ge­meinsamen Feind.

Der Preis, der für eine solche Einigkeit bezahlt wird, ist hoch. Die Gefahr eines erneuten Abgleitens in eine Sündenbock-Mentalität, deren Atmo­sphäre von Menschenjagd und der damit verbun­denen falschen Gefühle einer Volksverbundenheit, ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. Gerade wir Frauen sollten uns daran erinnern, wie leicht Vor­urteile sich durch eine solche Haltung festigen und reaktionäre Vorstellungen, wie eine Frau zu sein habe, mit zunehmender Intoleranz vertreten wer­den.

Wenn wir diesen Anfängen nicht wehren, kann es leicht geschehen, daß unsere kritische Betrachtung der Situation der Frauen in unserer Gesellschaft und unser zähes Bemühen um ihre Selbstbefreiung dazu führt, daß auch die Frauenbewegung Opfer dieser Hexenjagd wird.

Margarete Mitscherlich-Nielsen

Aus: © EMMA 11/1977