Von Almuth Sellschopp.
1970 hatte das Buch von Simone de Beauvoir „Das Alter“ eine dramatische Wirkung. „Ein schockierendes Werk“, hieß es in der Kritik des L’Express, „das sich mit nichts vergleichen lässt“. In der Psychoanalyse wurde das, was zur Entwicklung im Alter lange Zeit zu erfahren war, vorwiegend auf das männliche Altern bezogen. Hartmut Radebold hatte schon vor 20 Jahren Überlegungen zum weiblichen Älterwerden zur Diskussion gestellt, sein wichtiger Beitrag zu Identitätsproblemen im höheren Alter wurde aber nicht weiter verfolgt. Erst heute beginnt uns allmählich die Frage zu beschäftigen nach den Verschiedenheiten des männlichen und weiblichen Alterns in der Forschung und in der klinischen Arbeit mit älteren Menschen.
Auch wenn wir wenig über die seelischen und sozialen Entwicklungen jenseits des 75. Lebensjahres wissen, gibt es noch immer tradierte Muster, die Susan Sontag 1979 den „double Standard of aging“ nannte. Danach sollen Frauen Selbstwertprobleme, ungünstige Selbstzuschreibungen und entwertende subjektive Theorien des Älterwerdens aufweisen. Sie würden sich auch selbst rascher als alt betrachten und von anderen so bewertet werden.
In Bezug auf den „doppelten Standard“ scheint jedoch heute eine Verschiebung einzutreten, die sich im Grunde schon 1970 in Simone de Beauvoirs Werk bei ihrer Schilderung der 100-Jährigen (überwiegend Frauen) findet: ihre Freude am Leben, ihre körperliche Robustheit, ihre Fähigkeit sich beständig zu beschäftigen, ihr klares geistig kognitives Vermögen und ihr ausgeglichenes, fröhliches Temperament.
Astrid Riehl-Emde und ich begannen mit der Überlegung, eine Gruppe zu befragen, die in Bezug auf ein hohes Alter vermutlich gute Voraussetzungen mitbringen würde: die Feministinnen, und zwar diejenigen, die im engeren Sinn politisch tätig waren oder sind. Dies führte zur Spurensuche des persönlich bewerteten Älterwerdens bei Simone de Beauvoir und Alice Schwarzer.
Alice Schwarzer war zögerlich bei meiner Anfrage, mit mir ein Gespräch über das Älterwerden zu führen. Sie bekannte, dazu eigentlich nicht viel sagen zu können. Sie wollte sehr gern auf Fragen über das Alter antworten und war bereit, auch über das eigene Älterwerden und den Zusammenhang mit der feministischen Bewegung nachzudenken. Diese Gedanken hatten jedoch – so mein Eindruck – in ihrem sonst übervollen und engagierten Leben nur wenig Platz. Wir einigten uns darauf, dies Gespräch zu einem späteren Zeitpunkt nachzuholen.
Anders Margarete Mitscherlich, die bei meiner Anfrage sofort bereit war, ein Gespräch zu führen. In ihrem Leben und in ihrem Buch „Die Radikalität des Alters“ (2010) hatte sie die höhere Selbstreflexion von Frauen im Alter beschworen. Deshalb lag die Frage nahe, ob die feministische Prägung und die damit einhergehende bewusste politische Sozialisierung in einer bestimmten Altersphase (sie war zu Beginn der feministischen Bewegung 52 Jahre alt) es ihr erleichtern würden, das Alter als Befreiung zu erleben und den Prozess der sozialen Isolierung älterer Menschen besser zu bestehen. Es interessierte mich, ob sie dem Alter eine andere Qualität abgewinnen konnte als zum Beispiel Simone de Beauvoir, die es einfach „schlimm“ fand, älter zu werden.
Die Begeisterung, mit der Margarete Mitscherlich auf die Anfrage reagierte, beeindruckte mich: „Das ist doch wahrscheinlich schnell zu erledigen“, sagte sie am Telefon. Tatsächlich dauerte das Gespräch drei Stunden – nach denen sie das Gefühl hatte, nicht wirklich angefangen zu haben. Wir trafen uns nachmittags in ihrer Wohnung in Frankfurt und nahmen an einem von ihr festlich gedeckten Tisch Platz. Es konnte kein vorher inhaltlich festgelegtes Interview werden, da ihre Lebendigkeit den Ablauf vorgab.
Sehr kritisch setzte Mitscherlich sich mit der feministischen Bewegung auseinander, die sie enttäuscht hat. Gründe für viele Entwicklungen waren für sie, dass der deutsche Feminismus seit 1970 stark reaktive Seiten hatte. Die eigentlichen Feministinnen sind für Margarete Mitscherlich die politischen, die „menschlichen“ Feministinnen, die um echte Menschenrechte kämpften, „meinetwegen kleinbürgerlich, bürgerlich oder großbürgerlich oder eben sozialistisch oder kommunistisch“. Viele von ihnen waren bereits vor Beginn des Nationalsozialismus ermordet worden.
Eindeutig und durchgehend bewundert sie Alice Schwarzer und ihre Lebensleistung. Zu ihr konnte sie eine innerlich positive Beziehung frei von Neid erhalten. Beide hätten sich für den Abbau von Ideologien im Umgang zwischen Männern und Frauen eingesetzt. Margarete Mitscherlich bewundert Schwarzers Fähigkeit, sich konsequent etwas zu erarbeiten und zu durchdringen, auch wenn sie ihr in Diskussionen durchaus auch kritisch gegenüberstand: „Ja, aber wir sind uns gegenseitig bis zum heutigen Tag beratend Begleiterinnen.“
Zum Alter sagte Margarete Mitscherlich, es sei „eine vom Wissen durchdrungene Periode, dass es keine Zukunft für uns gibt“. „Je mehr man abbaut, je absolut sicherer ist man, man stirbt in absehbarer Zeit. Es kann nur schlechter werden, dessen bin ich mir 100 Prozent sicher.“ (Sie lacht). „Meine Gebete zum lieben Gott, der arme liebe Gott, der sich so viele Gebete anhören muss, sind immer die, dass ich als Ganzes lebendig bleibe bis zum Schluss. Denken können, man muss denken. Wenn ich nachts nicht schlafen kann, sehr müde bin, aber nicht zum Einschlafen müde, dann kann ich mich in den Sessel setzen und sagen: Worüber möchtest du nachdenken? Was würde dir Spaß machen. Was hast du eigentlich nicht recht verstanden – wozu ich auch während des Tages keine Zeit hatte? Da suche ich mir etwas aus und finde immer etwas – das sind die Momente des Glücklichseins, wenn ich etwas Neues gedacht habe.“
Sie sprach über ihr schwaches Herz und dass es in der nächsten Zeit, in der nächsten Nacht so weit sein könnte zu sterben: „Ich weiß, dass ich bald sterben werde, ich könnte jeden Moment sterben, das ist in Ordnung, das ist so.“ Dass sie medizinische Vorkehrungen getroffen hatte, falls „nicht gleich Schluss“ wäre, erwähnt sie nebenbei. Aber sie betet darum, dass sie bis zum Schluss lebendig denken kann: „Die Lust am Denken darf vorher nicht weg sein.“
Nach dem Einfluss gefragt, den der Körper wie am Anfang des Lebens – das Ich ist zu allererst ein Körper-Ich (Freud) – auf das Erleben des Älterwerdens hat, wie das Körpererleben das Seelische prägt und vice versa, sagt sie: „Das ist das Schwierigste am Alter. Das Körpererleben garantiert deine Unabhängigkeit, wenn dir was nicht gefällt, eine Situation, kannst du dich ins Auto setzen und verschwinden […] Diese Fluchtmöglichkeiten hast du nicht mehr und deswegen ist das Alter meines Erachtens die schwierigste Periode im Leben. Für mich sind die Fluchtmöglichkeiten vor dem Körper nur noch dadurch gegeben, dass ich mich ins Denken flüchte.“
Das Erlebnis des sich versagenden Körpers und auch die täglichen Enttäuschungen kann sie zum Teil mithilfe ihres Denkens bewältigen. Als sie die Formen des Bewältigens schildert, bekommen diese fast den Charakter eines kleinen Privattheaters. Auch bei menschlichen Enttäuschungen im Alltag (z.B. Alleingelassen worden zu sein, schlecht versorgt zu sein) zieht sie sich ins Denken zurück. Dann wird es dialogisch oder sie führt Mehrpersonengespräche mit Rede und Gegenrede.
Dabei ist für einen guten Ausgang ausschlaggebend, dass sie sich auf rechtfertigende Argumente der Gegenseite einlassen kann, nach denen sie oft lange suchen muss und die sie meist auch findet:
„Also, wenn ich dann bittere Gefühle entwickle, dann muss ich daran arbeiten und an die Zeiten denken, in denen ich mir gesagt habe: Eigentlich geht es dir doch gut, du hast alles, was du wolltest im Leben. Was willst du mehr? Natürlich weiß ich, dass das langsam aufhört […] Dialoge müssen deswegen schon überzeugend sein (sie lacht), und dann hört die Bitterkeit auf. Dann hört auch meine Wut auf, und ich kann sie bei passenden Gelegenheiten rauslassen. Manchmal verliere ich auch gegenüber den Anderen oder es dauert länger, oder ich bleibe auf meinen Argumenten sitzen.“
Zum Schluss sprachen wir über ihre Träume. Sie ist davon fasziniert, dass so wenig für das hohe Alter darüber bekannt ist, und dass das Sexuelle und Erotische bei ihr so lange auch in ihren Träumen eine große Rolle spielte. Dies gehöre zum Menschen, bis der Körper anfange, Schmerzen zu haben, die Kräfte nachließen, wie es ja auch sonst bei sexuellem Begehren in der Realität sei. Es bewege sie, dass sie früher in wunscherfüllenden Träumen die unliebsame Realität verleugnen konnte; so konnte sie bis vor kurzem noch träumen, dass sie wunderbar laufen konnte. Jetzt habe sie geträumt, dass sie mit einem Rollator unterwegs war (sie lacht): „Das ärgert mich, dass man eines Tages merkt, man kann’s nicht mehr verleugnen.“
Margarete Mitscherlich verstarb vier Tage nach dem Gespräch.
Almuth Sellschopp
Die Autorin hat eine Praxis in München als Psychoanalytikerin und ist Lehranalytikerin. Der Text ist ein Auszug aus Sellschopps Aufsatz in „Keine friedfertige Frau – Margarete Mitscherlich-Nielsen, die Psychoanalyse und der Feminismus“, hrsg. Von Christiane Schroer und Ingrid Moeslein-Teising (Psychosozial-Verlag).
Aus © EMMA 1/2015