Von Alice Schwarzer.
Am Morgen des 12. Juni 2012 ist Margarete Mitscherlich gestorben. Im Kreis ihrer geliebten Familie, bis hin zu den UrenkelInnen. In wenigen Wochen wäre sie 95 geworden, dennoch starb sie überraschend. Einen Altersschock hatte sie mit 90 bekommen und plötzlich häufig vom Tod gesprochen („Jeden Abend, wenn ich ins Bett gehe, bin ich darauf gefasst, morgens nicht mehr aufzuwachen“). Ihr 2011 erschienenes Buch „Die Radikalität des Alters“ schien eine Bilanz zu sein. Schien. Denn kaum war das Buch erschienen, wurde sie überschwemmt mit Interview-Anfragen. Man hatte begriffen: Die berühmte Analytikerin lebt nicht nur, sie ist noch hochlebendig. Also schmiedete auch Margarete wieder Pläne. Sie plante ein nächstes Buch, darin sollte es um das Thema Liebe gehen. Ein Thema, von dem sie wahrlich viel verstand. Darum habe ich die Freundin für EMMA zur Liebe interviewt.
Es war mein drittes Interview mit ihr und der vorletzte Besuch in ihrer so modernen, hellen, heiteren Wohnung im Herzen von Frankfurt. Beim letzten Besuch, Mitte Mai, habe ich für sie gekocht. Spargel. Denn Margarete interessierte sich nicht die Bohne fürs Kochen – aber umso mehr fürs gute Essen.
Wir haben ein paar Stunden lang geschwatzt, geklatscht und gelacht. Wie immer. Ja, es stimmt: Margarete konnte sehr scharf sein in ihrem Urteil über Menschen, wie jetzt in einigen Nachrufen beklagt wird. Aber sie blieb immer voller Verständnis, selbst für GegnerInnen.
In den fast 40 Jahren, in denen wir befreundet waren, habe ich niemals erlebt, dass Margarete Mitscherlich mich oder einen anderen Menschen psychoanalytisch interpretiert hätte. Im privaten Kontext hat sie gänzlich auf die Macht des Verstehens, ja Durchschauens verzichtet. Ließ man sich doch einmal dazu hinreißen zu sagen: Margarete, ich hatte da so einen bizarren Traum, was soll das bedeuten? – lachte sie und antwortete: Das musst du schon selber wissen.
Wie sie überhaupt gerne lachte. Aus Lebensfreude oder aber auch aus Menschenkenntnis. So sind sie, die Menschen… Hierarchien und Machtverhältnisse waren ihr ein Gräuel. Schließlich war die kleine Margarete Nielsen in Dänemark aufgewachsen, wo der König Fahrrad fuhr und ihr irgendwann auch mal am Briefkasten begegnet war. Diese Begegnung hat sie jahrelang amüsiert. König? Na und!
Margarete war das einzige, sehr geliebte Kind eines einfühlsamen dänischen Landarztes und seiner Frau, eine stolze deutsche Lehrerin. Die Mutter hat die kleine wilde Tochter bis zum Alter von zehn zuhause unterrichtet. Wir dürfen davon ausgehen, dass dies mit wenig Disziplin und viel Empathie geschah.
Dennoch blieb die Mutter für die Tochter lebenslang ein Rätsel. „Ich bin Psychoanalytikerin geworden, um meine Mutter zu verstehen“, hat Margarete einmal zu mir gesagt in einem der zahlreichen Interviews, die ich über die Jahre mit ihr gemacht habe. Diese Mutter hatte der Tochter zwei „Aufträge“, wie es in der Psychologie heißt, mit auf den Weg gegeben: 1. Liebe Deutschland! 2. Sei emanzipiert!
Die Mutter, eine geborene Leopold, war die Tochter von Pelzhändlern, die ihre vermutlich jüdische Herkunft verschleiert hatten, um weniger Ärger zu haben. Sie hatte spät geheiratet, eine Vernunftehe nach einer ewig betrauerten „großen Liebe“, und lebenslang ihre frauenrechtlerisch bewegten Freundinnen zu Besuch. An allen dänischen Nationalfeiertagen litt die Mutter hinter zugezogenen Vorhängen an Migräne, an den deutschen flaggte sie fröhlich.
Aus den beiden Aufträgen der Mutter hat die Tochter wirklich etwas gemacht! Margarete, die in Heidelberg studierte, hasste die Nazis, aber liebte Deutschland. Und sie holte nach dem Krieg und einer Ausbildung bei den Exilanten in London die Psychoanalyse zurück. Ohne sie wäre Deutschland vermutlich viel länger verbrannte Erde geblieben, auch in psychoanalytischer Hinsicht.
Hinzu kam der persönliche wie politische Glücksfall ihrer Begegnung mit Alexander Mitscherlich. Der Großbürger hatte sich mit seinem Buch über die Kollaboration seines Berufsstandes mit den KZ-Folterern, „Wissenschaft ohne Menschlichkeit“ (1949), aus der eigenen Klasse katapultiert. Er war vor allem an der Gesellschaftsanalyse interessiert. Das war sie auch. Aber bei ihr kam das individualanalytische Interesse hinzu. Und auf dem Gebiet der persönlichen Analyse, auf ihrem Stuhl neben der Patientenliege war sie von einer raren, vielleicht einzigartigen Begabung. Hunderten, ja tausenden Menschen hat sie die Augen geöffnet.
Die Aufsätze in dem deutschen Schlüsselbuch der Mitscherlichs, „Die Unfähigkeit zu trauern“ (1967), waren von beiden, der Titelaufsatz von ihr. Sie, die Deutsch-Dänin, hatte gleichzeitig eine Leidenschaft für und eine Distanz zu Deutschland. Sie war so in der Lage, mehr und klarer zu sehen als diejenigen, die mittendrin steckten.
Sie war es auch, die als erste den Protest der 68er Generation und deren Kritik am „imperialistischen Israel“ durchschaute als Kontinuität dieser Söhne & Töchter ihrer Väter & Mütter. Da war es wieder: dieses ihr so verhasste Schwarz/Weiß-Denken und diese deutsche Selbstgerechtigkeit (Im Namen der gerechten Sache ist alles erlaubt).
Es ergab sich quasi naturgegeben, dass Margarete Mitscherlich-Nielsen bei ihrem Aufenthalt mit Alexander, dem so innig wie ironisch geliebten Gefährten, Ende der 60er-Jahre in Amerika spontan mit der aufbrechenden Frauenbewegung sympathisierte. Und auch zwischen uns war die Sache ab der ersten Begegnung im Jahre 1974 klar. Zu den politischen Gemeinsamkeiten kamen die persönlichen. Wir wurden rasch Freundinnen.
Als Margarete 1977 für die erste Ausgabe der EMMA einen Kommentar schrieb mit dem Titel „Ich bin Feministin“, da war sie sich durchaus der Provokation bewusst. Doch hat sie sich weder einschüchtern noch reduzieren lassen auf ein kleinkariertes Verständnis vom Feminismus. Sie ist lebenslang Feministin & freie Denkerin geblieben. Ihr Buch „Die friedfertige Frau“ (1985) wurde eines ihrer erfolgreichsten. Und es stellte erneut diese so undeutsche Qualität der großen Analytikerin unter Beweis: ihre Ambivalenzfähigkeit.
Du wirst nicht nur mir schmerzlich fehlen, Margarete.
Alice Schwarzer
Aus © EMMA 3/2012 (Foto: © Photoarchiv des Sigmund-Freud-Instituts)