Das Traumpaar: Beauvoir & Sartre

Sie waren das „Traumpaar“ für mehr als eine Generation, da sie eine Beziehung zueinander aufgebaut hatten, die durch eheliche Einschränkungen und Besitzforderungen, kleinbürgerliche Anpassung an gesellschaftliche Normen nicht beeinträchtigt wurde und dennoch lebenslänglich bestehen blieb .Welchen Preis bezahlten sie dafür? Erfahren wir das in den Briefen Sartres? Vielleicht – vielleicht auch nicht, wir werden sehen.

Es war der Versuch eines ra­dikal andersartigen Lebens­entwurfs. Ein Experiment, das daraufhin zu untersuchen ist, ob es ein neues Paradigma, ein neues Beispiel des Zu­sammenlebens, anbietet, in einer Zeit, die für alle Nach­denklichen das Elend der überkommenen Geschlech­terbeziehungen sichtbar ge­macht hat.

Zu Beginn ihrer Liebesbezie­hung hatten sich Sartre und Beauvoir geschworen, einan­der nie zu belügen, über die Erfahrungen und Erlebnisse- ob alltäglich oder außerge­wöhnlich – einander ausgiebig zu berichten, dem jeweilig anderen aber völlige Freiheit zu lassen. Wie weit das auf Kosten anderer ging und zu Verletzungen des einen oder des anderen Partners dieses Bundes führte, darüber soll hier ausführlich gesprochen werden.

Die Briefe Sartres an Beau­voir erstrecken sich über ei­nen Zeitraum von fast 40 Jahren. Sie beginnen mit einem Brief, 1926, an Sartres erste exzentrische Geliebte Simone Jolivet und enden 1963 mit einem Brief an Simone de Beauvoir von einer Reise nach Holland, auf der ihn Arlette Elkaim begleitete. Arlette war Sartres Geliebte und beider Freundin, wie das so häufig im Leben von Sartre und Beauvoir der Fall war. Sie wurde von Sartre adoptiert. Argument: damit sie, als Al­gerierin, aus Frankreich nicht ausgewiesen werden konnte. Beim Lesen der von Simone de Beauvoir herausgegebe­nen Briefe vermißt die Lese­rin/der Leser schmerzlich die  Antworten Beauvoirs, insbesondere dann, wenn man sich zur Aufgabe gemacht hat, sich mit Hilfe der Briefe ein um­fassenderes Bild der hoch­komplexen und nicht immer leicht durchschaubaren Be­ziehung von zwei Intellektuel­len zu machen, die nicht nur die französische und interna­tionale Kultur während und nach dem Zweiten Weltkrieg wesentlich geprägt haben, sondern auch die Vorstellun­gen von einer „freien Liebe“. Die Tagebuchblätter im letz­ten Teil von Beauvoirs Buch „In den besten Jahren“ sind wenig aufschlußreich in dieser Hinsicht und kein Ersatz für ihre Briefe an Sartre. Die problematischeren Gefühle Simones in bezug auf ihre Be­ziehung zu Sartre werden dort nicht erwähnt. Die Frage:

„Wie sah also die Beziehung zwischen Sartre und Beauvoir wirklich aus?“, wird auch auf­grund der Kenntnisse dieser Briefe nur teilweise zu beant­worten sein, obwohl diese manches offenlegen, was in den Memoiren und Romanen Beauvoirs übergangen wurde oder doch nicht so ohne wei­teres abzuleiten war.

Mögen sich Sartre und Beau­voir- besonders in den letzten Lebensjahren Sartres – auch bereit gezeigt haben, über sich und ihre Beziehung öffentlich zu sprechen, so bleibt doch vieles davon im Dunkeln. Verleugnungen, Verdrän­gungen, Selbsttäuschungen sind, wie sollte es auch anders sein, in der legendären Lebensgemeinschaft von Beau­voir und Sartre nicht zu über­sehen.

In den Briefen Sartres geht es häufig um Frauenbeziehungen, insbesondere um dieje­nige zu Tanja, die jüngere Schwester Olgas, deren Be­ziehung zu Sartre und Beau­voir in Beauvoirs ersten ver­öffentlichten Roman „L’invitée“ (Sie kam und blieb) aus­führlich behandelt wurde. Dieser Roman wurde 1938 begonnen und 1941 beendet. Olga war ursprünglich Simo­nes Schülerin gewesen, „die kleine Russin“ genannt, weil sie die Tochter eines vor der Revolution geflohenen Weiß­russen und einer Französin war. Sie fiel Beauvoir wegen ihrer Sensibilität und Bega­bung auf. Als Olga in Rouen Medizin studierte, ein Stu­dium, das sie haßte, befreun­dete Beauvoir sich näher mit ihr, unterrichtete sie in Philo­sophie und nahm sich gemein­sam mit Sartre ihrer an. Die Freundschaft mit Olga hat trotz aller Krisen offenbar bis heute Bestand gehabt.

Olga, ihre jüngere Schwester Tanja und einige andere ge­hörten zur kleinen „Familie“ von Sartre und Beauvoir, von der in diesen Briefen so über­aus häufig die Rede ist. Diese jungen Leute wurden von ih­nen beschützt, auch materiell, wenn es nötig war, und geistig und beruflich gefördert.

Die Freundschaft von Beau­voir, Sartre und Olga steigerte sich zeitweilig zu einer Obses­sion, insbesondere bei Sartre. Olga hatte ihm als eine Art Krankenschwester beigestan­den, als er nach einer Mescalin-Spritze über längere Zeit an Wahnvorstellungen litt. Das „Trio“ bildete sich, das in Beauvoirs Roman, L’invitee, eine so große Rolle spielen sollte. Olga und ihre jüngere Schwester Tanja waren äußerst exzentrische, begabte und launische Geschöpfe, die gerade deswegen für Sartre und Beauvoir so anziehend und anregend waren. Später wurden beide, Olga und Tan­ja, Schauspielerinnen, für sie schrieb Sartre das Theater­stück „Huis clos“ (Bei ge­schlossenen Türen). Die in den beiden Bänden veröffent­lichten Briefe Sartres stam­men fast alle aus einer Zeit, in der Olga die ursprüngliche Faszination für ihn verloren hatte, dafür nahm aber nun Tanja eine hervorragende Rolle in seinem Leben ein.

In Beauvoirs Buch „In den besten Jahren“ hat Tanja den Namen Wanda, nur selten wird sie überhaupt erwähnt. In den Gesprächen mit Alice Schwarzer sagt Beauvoir: „… daß er in bezug auf sein Gefühlsleben ein totales Ver­trauen in mich hatte, denn er erzählte mir alles, alle seine Geschichten, selbst die De­tails. Zum Beispiel seine Ge­schichte mit Wanda: Über al­les, was er empfand, hielt er mich Tag für Tag auf dem laufenden.“ Das trifft zu, wie man den Briefen Sartres ent­nehmen kann.

Gewiß, Sartre und Beauvoir hatten sich ja völlige gegen­seitige Aufrichtigkeit geschworen, „ein einziger Vor­satz belebte uns: alles erfas­sen, von allem Zeugnis ablegen; er befahl uns zuweilen, getrennte Wege zu gehen, ohne uns deswegen den ge­ringsten unserer Funde vor­zuenthalten.“ (Beauvoir in „In den besten Jahren“) Daß solche Vorsätze, eine solche Aufrichtigkeit, auch zu Grau­samkeit und Gefühlsrohheit führen kann, das offenbaren manche Briefe Sartres an Si­mone. Wenn man bedenkt, daß es sich bei diesem Paar um Menschen handelt, die in hohem Maße reflektiert und waren, so hätte man von ihnen mehr Einfühlung, Sensibilität und auch Geschmack erwar­tet. Man hat manchmal den Eindruck bei Sartre, aber auch bei Beauvoir, daß alles zum Experiment degradiert wird: leidenschaftliche Lie­besbriefe an Frauen, mit de­nen Sartre eine vorüberge­hende sexuelle Beziehung un­terhielt, werden von Sartre und Beauvoir als literarische Versuche angesehen und ent­sprechend kühl bewertet. Auch Sartres langjährige Beziehung zu Tanja, die so an­dersartig gewesen sein muß als die zu Simone, ist Thema zahlreicher seiner Briefe. Soweit er dazu fähig war, liebte Sartre offenbar Tanja. Dennoch belog er sie und in­formierte Simone über alle Einzelheiten seiner intimen Beziehung zu ihr, ohne daß Tanja davon etwas wußte. Peinlich Tanja gegenüber sind ihm dann später solche von ihm und Simone mehr oder weniger als literarische Expe­rimente angesehene Briefe an frühere Geliebte. In einem Brief an Simone schreibt er: „Ich habe vier wütende Seiten von Tanja gelesen. Sie glaubt, daß ich mit der Bourdin noch schlief, als ich mit ihr geschla­fen habe, was nicht stimmt… Und nun mache ich etwas Gemeines, das die Bourdin aber verdient, ich schicke der Bourdin einen offenen Brief, den Tanja zur Post bringen muß, und in diesem Brief er­zähle ich der Bourdin die Ge­schichte mit der Bourdin, so wie sie war. Ich schicke Ihnen den Entwurf.“ Und an Si­mone schreibt Sartre weiter: „Für Sie, mein lieber Kleiner, gilt es, Verhaltensregeln ein­zuhalten.“

Simone bekommt nun von Sartre zahlreiche Anweisun­gen, was sie den beiden Geschwistern Olga und Tanja zu sagen habe. Er fährt fort: „Versuchen Sie, mich auf dem laufenden zu halten, horchen Sie ein oder zwei Tage, nach­dem Sie diesen Brief erhalten, Z. darüber aus, damit man so ungefähr sieht, ob sich das nach meinen Erklärungen be­ruhigt hat.

Der Bourdin ge­genüber ist es gemein, aber es ist ulkig, wie hart ich zu den Leuten werde. Ich habe die Nase voll von falschen Situa­tionen, und ich will meine Ruhe, ich war zulange gekne­belt und angewidert von fal­scher Sensibilität.“

Der Brief an die frühere Ge­liebte Bourdin ist in der Tat von äußerster Grausamkeit: „Ich gestehe, daß die Lust, die mir Deine Person ein paar Tage bereitet hatte, schon lange vergangen war, Sadis­mus und Vulgarität hat man schnell satt.“

Immerhin schreibt Sartre in einem späteren Brief an Si­mone selbstkritisch: „Aber es geht nicht so sehr darum, ob­wohl der Gedanke, T. zu ver­lieren, mich betrübt. Es ist vielmehr so, daß ich wegen all dem zutiefst von mir angewi­dert bin. Sie wissen, daß mir das ziemlich selten passiert. . . Und wenn Sie mich mit der Sinnlichkeit entschuldigen, so müssen wir erstens sagen, daß ich keine habe, und daß ein leicht erregbares Begehren keine Entschuldigung sein kann, und zweitens, daß meine sexuelle Beziehung zu ihr schändlich war. Ich be­schuldige hier nicht so sehr den, der ich mit ihr war, son­dern meine sexuelle Persön­lichkeit im allgemeinen; mir scheint, bisher habe ich mich in den körperlichen Beziehungen mit anderen Leuten wie ein ungeratenes Kind auf­geführt. Ich kenne wenige Frauen, die ich in dieser Hinsicht nicht in Verlegenheit ge­bracht habe (außer eben grade T., was komisch ist). Sie selbst, mein kleiner Castor, für den ich immer nur Re­spekt gehabt habe, brachte ich sehr oft in Verlegenheit, vor allem in der ersten Zeit, und Sie haben mich schon ein biß­chen als obszön empfunden. Zwar nicht als geilen Bock. Ich bin sicher, daß ich das nicht bin. Aber einfach als obszön. Mir scheint, daß da etwas sehr Verdorbenes in mir ist, und, wissen Sie, ich fühle es dunkel seit einiger Zeit, denn in unserer körper­lichen Beziehung in Paris während meines Urlaubs ha­ben Sie bemerken können, daß ich mich verändert hat­te. . .“ — Dem ist zu entneh­men, daß Simone Sartres rare Selbstkritik in bezug auf sein Verhalten gegenüber anderen Frauen eher gebremst hat.

Simone gegenüber war Sartre von einer fast grausamen Auf­richtigkeit. Tanja durfte da­von nichts wissen, auch über die sexuelle Beziehung zu Si­mone nicht, die damals noch bestand. Auch Simone log auf Sartres Befehl. Beide, sie wie Sartre, mußten sich die Zeit stehlen, um während seiner Urlaube in den ersten Kriegs­jahren einige gemeinsame Tage und Nächte verbringen zu können. Beide Frauen, Si­mone und Tanja, waren für Sartre sehr wichtig: „Nicht nur Sie, sondern meine Be­ziehung zu Ihnen wird mir immer wertvoller und was die eheliche,Verführung1 angeht, ich meine die im Schöße einer offiziell etablierten Bezie­hung, genügt mir T. vollauf.“ An T. wird viel Kritik geübt. Sartre bezeichnet sie als ver­logen, obwohl sie doch selber so viel belogen wird. Selten finden wir Sartre so selbstkri­tisch, wie in dem eben zitier­ten Brief. Simone kritisiert er nie. Sie ist ein Teil von ihm, sein zweites Ich, wie er ihr un­aufhörlich beteuert. Aggres­sionen scheint es zwischen den beiden so gut wie gar nicht zu geben.

Aber auch für Simone muß die Aufrichtigkeit Sartres, die nicht selten bis zur Ge­schmacklosigkeit geht, sehr schmerzlich gewesen sein, obwohl sie das nicht wahrha­ben will.In „In den besten Jahren“ schreibt sie: „Heute dagegen irritiert es mich, wenn Dritte sich billigend oder tadelnd über unsere Beziehung aussprechen, ohne die Eigenständigkeit zu be­rücksichtigen, die sie erklärt und rechtfertigt: diese Zwil­lingszeichen auf unseren Stir­nen. Die Brüderlichkeit, die unser Leben zusammensch­molz, macht jede andere Bindung, die wir hätten eingehen können, überflüssig und lä­cherlich. . .“

Mehr als die Hälfte der Briefe des ersten und zweiten Ban­des schrieb Sartre, nachdem er am 2. September 1939 ein­gezogen wurde. Nicht alle Briefe gehen an Simone. In den ersten Jahren zwischen 1926, 27 und 28 ist Simone Jolivet die Empfängerin sei­ner Briefe, ab 1928 bis 1938 sind die wenigen hier abge­druckten Briefe vor allem an Simone de Beauvoir gerichtet.

Ab 1937 wird Tanja erwähnt, der Sartre offenbar über lange Zeit, insbesondere während er Soldat war, eben so häufig geschrieben hat wie Beauvoir. Noch im vorletzten Brief des zweiten Bandes (1963) er­scheint Tanjas Name. Dort schreibt Sartre über ein Ge­schwür, das ihm die Nase zerfressen habe und fügt hinzu: „Hat Tanja auf meinem Photo diesen Zinken mit Na­deln gespickt?“

Sartre hatte viele Geliebte, von denen manche auch Freundinnen von Simone wa­ren oder zu Freundinnen von beiden wurden. An Louise Vedrine, eine Freundin Si­mones, schrieb er über kurze Zeit leidenschaftliche Liebesbriefe. Mit ihr unterhielt er eine Beziehung etwa zur glei­chen Zeit, als er zum ersten Mal – nach einer langen Zeit der Werbung – mit Tanja geschlafen hatte. Ein Ereignis, das wiederum in allen Einzel­heiten Simone mitgeteilt wur­de. Dennoch scheint die Be­ziehung zu Tanja über viele Jahre für Sartre von größerer Bedeutung gewesen zu sein, als die zu den meisten anderen Frauen, die er zu lieben glaubte oder mit denen ersieh über längere Zeit verband.

Die Beziehung zu Simone war offenbar eine ganz andere als die zu Tanja. In einem ihrer letzten Interviews mit Alice Schwarzer („Simone de Be­auvoir heute – Gespräche aus 10 Jahren“) hat sie ihr Ver­hältnis zu Sartre so charakte­risiert: „In der Tat interes­sierte der sexuelle Kontakt im engeren Sinne Sartre nicht sonderlich, er streichelte gern. Ich hingegen war sehr leiden­schaftlich. Für mich war die Sexualität mit Sartre in den ersten zwei bis drei Jahren sehr, sehr wichtig, da ich die Sexualität ja mit ihm entdeck­te. Später ließ es zwischen uns nach, weil es eben für Sartre auch nicht die Bedeutung hat­te. Obwohl wir noch 15 oder 20 Jahre lang sexuelle Kon­takte hatten, spielte die Se­xualität in unserer Beziehung in der Tat keine so große Rol­le.“

Immer wieder betont Simone, daß sie füreinander die wich­tigsten Personen waren. Es gibt nur selten eine Gelegen­heit, in der sie dies in Frage stellten. „Hinzu kam, daß wir auch intellektuell viel zu selbstbewußt waren, um zu befürchten, daß eine andere Person wichtiger werden könnte“, sagt Simone zu Alice Schwarzer.

Von Sartre wird behauptet, daß er sexuelle Eifersucht nicht kannte. Das trifft nicht zu, wie man diesen Briefen entnehmen kann. Wenn er befürchten mußte, daß Tanja ihn betrog, litt er heftig unter Eifersucht. Er wollte sich ihre Untreue auf keinen Fall gefal­len lassen: „Ich weiß, daß T. es nicht verantworten kann, mit mir zu brechen. Aber sie kann eine dreckige Dummheit mit ihrem Kreolen oder dem Typ von V. Brochard oder irgendeinem anderen machen, und das werde ich nicht dulden.“ Die doppelte Geschlechtermoral war also auch für Sartre mit Tanja selbstverständlich.

Er konnte Tanja auch bewußt und äußerst routiniert Schuldgefühle machen. An­dererseits spricht er von sei­ner Zeit mit Beauvoir, bevor er ihr in Berlin untreu wurde, als der glücklichsten seines Lebens: „Das war übrigens eine glückliche Zeit, meine Kleine, Sie waren in Rouen, ich in Le Havre, ich war noch nicht in Berlin gewesen, die­ses Jahr bleibt das süßeste meines Lebens.“

Die Beziehung zu T. ging bis an sein Lebensende. 1941 heißt es in einem Brief an Si­mone: „Mein Verhältnis zuT. ist ausgezeichnet… Sie ist für eine viertel Stunde wegge­gangen und ich schreibe mit Blick auf die Tür, denn sie darf diesen Brief auf keinen Fall sehen.“ Noch 1945, nachdem er in Amerika eine recht leidenschaftliche Bezie­hung mit der Amerikanerin Dolores begonnen hatte, schreibt er: „Ansonsten war Tanja zauberhaft.“ 1946 heißt es: „Allein die Existenz meiner Mutter und Tanjas hindert mich, sechs Monate des Jahres mit Ihnen irgend­wohin zum Arbeiten zu fah­ren.“

In dem selben Brief schreibt er: „Keine besonderen Vor­kommnisse. Außer daß Dolo­res mich beängstigend liebt. Im übrigen ist sie absolut rei­zend und wir haben nie Krach. . . Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das schreiben soll, wenn ich ihr gegenüber kein Schuft sein (wegen der Kälte des Geschriebenen) und Ih­nen trotzdem ein Gefühl für die Dinge geben will.“ Hier spürt man, daß die Beziehung zwischen Sartre und Beauvoir sich geändert hat. Es ist jetzt trotz aller Offenheit Rück­sicht dem anderen Liebes- partner gegenüber möglich. Die sexuelle Beziehung zwi­schen Beauvoir und Sartre scheint ihre Bedeutung weit­gehend verloren zu haben. 1947 begann Simone – wäh­rend ihres Amerika-Aufent­haltes – eine Beziehung zu Nelson Algreen, die ihr Glück, aber auch viel Schmerz bereitete und 1951 beendet wurde. 1952 hat sie sich noch einmal mit einem Mann, Claude Lanzmann, verbun­den, der fast 20 Jahre jünger war als sie. Zum ersten Mal wohnte sie mit einem Mann zusammen. 1958 hat sie sich von ihm getrennt. In den Jah­ren dieser Verbindung hörte die Beziehung zu Sartre aber nicht auf, wenn auch andere Dimensionen sie beherrsch­ten.

Sartre war in dieser Zeit unter anderem mit Michelle Vian verbunden; zum ersten Mal machten Beauvoir und Sartre ihre Reisen nicht allein, son­dern mit den jeweiligen Part­nern. „Diesmal scheint es, machte keiner der Kontingenten Partner Schwierigkei­ten, und so herrschte im Pri­vatleben unserer Autoren wieder ein durch die Verhält­nisse in Frankreich und der Welt allerdings oft genug in Frage gestelltes Glück“, schreibt Christiane Zehl Romero in der Monographie „Simone de Beauvoir“.

Ich komme noch einmal auf den Roman „L’invitee“ zu­rück, der 1938 begonnen und 1941 beendet wurde. Ihm zu­grunde lag die Dreierbeziehung Sartre-Beauvoir-Olga (die Schwester Tanjas) — so zumindest schildert es Simone in ihren Memoiren „Die be­sten Jahre“. Ich bin – nach Kenntnis dieser Briefe – ziemlich überzeugt davon, daß nicht nur Olga in dem Roman Beauvoirs beschrie­ben worden ist, sondern we­sentlich auch Tanja und Beauvoirs Gefühle ihr gegen­über. 1938 hatte sich die Be­ziehung Sartres zu Olga schon längst auf eine Freundschaft reduziert, dennoch hatte er Angst vor der Eifersucht Ol­gas auf Tanja, die damals für Sartre eine zunehmend große Rolle zu spielen begann. Im Roman bringt die Heldin Francoise (Simone) ihre Ri­valin Xaviere (Olga/Tanja) zum Schluß um.

„Während sich Simone zu vie­len autobiographischen Zü­gen in Francoise bekennt, be­hauptet sie, Olga systematisch entstellt zu haben, allerdings vielleicht nicht ganz so sehr, wie sie in den Memoiren aus Rücksicht auf die Freundin glauben macht. Denn das ka­priziöse, eigensinnige, seinen Egoismen und Launen le­bende junge Mädchen, dem wir in Xaviere zum ersten Mal begegnen, kehrt in den Ro­manen immer wieder“, kom­mentiert Zehl. Ich nehme an, daß es sich hier weniger um Olga als um Tanja handelt. „Zum Zeitpunkt des Mordes besteht kein praktischer

Grund für Francoise, sich durch die andere verdrängt zu fühlen. Pierre ist ganz zu ihr zurückgekehrt, sogar der junge Liebhaber Xavieres hat sich ihr zugewendet.“ (Zehl) Pierre stellt weitgehend Sartre dar, der junge Liebha­ber den jungen Bost, über den Sartre im ersten Band seiner Briefe berichtet, daß dieser in seiner Phantasie ihm auch Beauvoir weggenommen hät­te. Beauvoir brauchte also, als sie den Roman schrieb, kei­neswegs mehr eifersüchtig auf Olga zu sein, mit der sie nach wie vor eine enge Freund­schaft verband, wohingegen Tanja wirklich die „Andere“ darstellte, die ohne Zweifel für ihre Beziehung zu Sartre eine große Gefahr war.

Sartre schrieb einmal an Tan­ja: „Du weißt ja, daß ich über Leichen gehen würde (selbst über die von Castor, trotz meinem ,Mystizismus‘), um mit Dir einig zu sein.“

Der Zorn auf Tanja, die Ei­fersucht waren offenbar so groß, daß Simone darüber nicht direkt zu schreiben ver­mochte. In ihren Memoiren kommt Tanja nur selten vor. Worüber sie schreiben kann, dem scheint immer ein Stück Bewältigung vorausgegangen zu sein. Ich denke, der etwas plötzliche Schluß von „L’invi- tee“, in der Francoise glaubt, Xaviere umbringen zu müs­sen, hat in der Tat mehr mit Sartres Beziehung zu Tanja als mit der zu Olga zu tun. Mit Tanja begann sich die Be­ziehung Sartres zu Beauvoir offenbar zu ändern. Am Ende stand die Loslösung der inti­men Beziehung von Beauvoir und Sartre. Dolores war nur ein Zwischenspiel. Spätestens dann war Simone innerlich so frei, daß sie sich offen einem anderen Mann, erst Nelson Algreen, dann Claude Lanz- mann, sexuell und menschlich zuwenden konnte. Alles an­dere war dann, wenn man so will, ein Kinderspiel. Nach der sexuellen Loslösung von Sartre hat sich eine Freund­schaft etabliert, die für den Rest des Lebens bestehen bleiben konnte, die gemein­sames Arbeiten, gemeinsame Reisen ohne Schwierigkeiten zuließ.

Aus all dem ergibt sich, daß Eifersucht im alltäglichen Sinn nach Beendigung der se­xuellen Beziehungen zwi­schen beiden tatsächlich keine bedeutsame Rolle mehr spiel­te. Warum Simone, für die es Sexualität ohne Liebe nicht gab, sich das oft promiskuöse Verhalten Sartres gefallen ließ, läßt sich nicht beantwor­ten.

Aber auch Gefühle der Rivalität zwischen ihnen, die so leicht nicht zu unterdrücken sind, werden von Simone de Beauvoir übergangen oder in Idealisierung verkehrt. Die Vorstellung von einem „Zwil­lingszeichen auf unserer Stirn“ verhilft ihr offensicht­lich zu solchen für sie notwen­digen Verdrängungen und Verleugnungen von Gefüh­len, die Konflikte zwischen ihnen hätten aufkommen las­sen können, denen sie nicht gewachsen waren.

Sartre sagte in seinen Gesprä­chen mit Beauvoir in „Die Zeremonie des Abschieds“ über seine Briefe: „Es war die Transkription des unmittelba­ren Lebens. Ich hatte den Hintergedanken, daß man sie nach meinem Tode veröffent­lichen würde. . . Meine Briefe kamen letztenendes einem Zeugnis über mein Leben gleich.“ Sartre schrieb also ihm selber, welchen Schrecken er in seiner Kindheit vor dem Angeschautwerden emp­fand. Später spricht er dar­über, daß er die zerrüttende Macht exorzieren wolle, die „der andere“ auf ihn ausübt, indem dieser sich ein be­stimmtes Bild seines Gegen­übers macht und ihn dadurch der Freiheit, sich zu verän­dern, von seiner Vergangen­heit zu lösen beraubt. Die Hölle, das seien die anderen, die ihn für alle Ewigkeiten in seinem Sein festlegen, so Sartre in seinem Schauspiel „Bei geschlossenen Türen“. Wie wir aus der Psychoana­lyse wissen, liegt hinter der Angst vor dem Angeschautwerden nicht selten der Wunsch, sich zur Schau zu stellen. Jeder, der wie Sartre als Schriftsteller von vornher­ein ein Bedürfnis nach Öffentlichkeit hat, muß von die­sen Gegensätzen wissen. Beide hatten eine Abscheu vor der Enge, den Vorurtei­len, der Verlogenheit, denen sie sich durch ihre Familie und ihre Herkunft in Kindheit und Jugend ausgesetzt fühlten. Um Offenheit, Befreiung von einer falschen, ihnen aufge­zwungenen Identität zu errei­chen, war ihnen Öffentlich­keit das ihnen gemäße Mittel. Sie lehnten das sogenannte „Innenleben“ ab. Dort war ihrer Meinung nach die heim­liche Brutstätte für Lug und Trug.

„Um diese Schatten und Miasmen zu verscheuchen, stellten sie ihr Leben, ihre Ge­fühle öffentlich zur Schau“, so Beauvoir in ihren Memoiren „In den besten Jahren“. Daß Beauvoir in ihren Memoiren manches verschwieg, ist ihr gutes Recht. In den Briefen Sartres an Beauvoir schlägt allerdings die Aufrichtigkeit, die sie sich beide geschworen hatten, gelegentlich in einfühlungslose Grausamkeit Sar­tres seinen Liebespartnerinnen – inclusive Beauvoir – ge­genüber um. Und ihr Schweigen in Selbstbetrug. Aber: Sie hat auch viel gewonnen. Näm­lich Freiheit und die Ermuti­gung, sich Freiheiten zu neh­men.

Margarete Mitscherlich

Aus © EMMA 9/1985