Mit Schwung zwischen alle Stühle

Alice Schwarzer zum 70. Geburtstag von Margarete Mitscherlich.

Als wir uns das erste Mal begegneten, hat Margarete Mitscherlich die Arrangeure dieser Begegnung, glaube ich, von Herzen frustriert. Das war 1975. Die Erregung über den gerade erschienenen,, Kleinen Unterschied „war gar nicht klein, und die Redaktion einer TV-Kultursendung hatte die listige Idee, Alice Schwarzer von Margarete Mitscherlich zur Sache interviewen zu lassen: Da meinem Buch nicht nur Unwissenschaftlichkeit und Feminismus vorgeworfen wurden, sondern ich darin, ganz en passant, auch Alexander Mitscherlich, ihren Ehemann, und Michael Balint, ihren Lehranalytiker, für groben Sexismus vors Schienbein getreten hatte, hätte aus der Begegnung leicht eine Konfrontation werden können (sollen?).

Was aber passierte? Licht und Kamera wurden eingestellt und ei ne blendend gelaunte, hochamüsierte Freudianerin unterhielt sich, von Fachfrau zu Fachfrau, mit der Feministin. Um die männliche und weibliche Psyche ging es dabei und um Sexualität; Bereiche, in denen wir beide arbeiten, wenn auch mit unterschiedlichen Methoden.

Überraschend war wohl nicht nur die Einigkeit, sondern auch die gänzliche Abwesenheit jeglicher Distanzierungssignale und Berührungsängste der etablierten Wissenschaftlerin gegenüber der als skandalös gehandelten Journalistin. Das herzliche Gespräch irritierte nicht nur die Kollegen, es vergraulte auch den Ehemann: Alexander Mitscherlich zog sich demonstrativ in sein Arbeitszimmer zurück. Erst nach Abzug des Teams kochte er, nicht minder demonstrativ, Tee (für den erden Standort von Tee- und Zuckerdose und Tassen Stück für Stück erfragen musste). Sodann trug er mir, trug er uns aufs vorwurfsvollste die Benachteiligung männlicher Hebammen-Kandidaten in Dänemark vor, die als Männer diesen Beruf nicht ausüben dürften…

Margarete war die erste, die ihrem Alexander schallend und ungehemmt ins Gesicht lachte. Und so wie sie lachte, das war klar, war es nicht das erste Mal. Aufmüpfig ist Margarete wohl immer gewesen.

Dafür hatte sie nicht auf die Frauenbewegung warten müssen. Dass sie sich jahrzehntelang dennoch in den weiblichen Part fügte – und das wohl weitgehender und länger, als es ihr guttun konnte – ist auch eine Generationsfrage: Die so lange vor der Frauenbewegung aufbegehrenden Frauen waren zu allein mit ihrer Rebellion.

Warum einer Frau wie Margarete Mitscherlich (die ab den 70er Jahren zusätzlich auf ihrem dänischen Mädchennamen Nielsen bestand) rasch klar werden musste, dass der Feminismus auch ihre Sache ist, wird bei einem Blick auf den Lebenslauf deutlich. Eine Wildfang-Kindheit auf dem dänischen Land, eine innerhäuslich dominante und lebenslang berufstätige Mutter (die einst in Berlin bei Helene Lange und Gertrud Bäumer in der Schule gewesen war!), die Entwurzelung der deutsch/dänischen Identität, das umständebedingte Alleinleben ab dem 16. Lebensjahr, das frühe Engagement gegen die Nazis, die unkonventionellen und sicher für sie auch harten ersten Jahre mit Alexander Mitscherlich (der zunächst noch mit einer anderen verheiratet war) und die uneheliche Geburt ihres gemeinsamen Sohnes – das alles sind Situationen, die einer Frau die Wonnen der Weiblichkeit gar nicht erst vorgaukeln.

Dennoch sind sie da, diese heute uns Frauen bestimmten Sehnsüchte, Prägungen und Grenzen. Heraus kommt ein „Ja, aber…“ Ein Ja zur wenigstens relativen Eigenständigkeit, zum eigenen Denken, zum eigenen Willen, zum eigenen Schaffen. Ein Ja aber auch zum Leben an seiner Seite – an der Seite derer, die für freie Frauen (noch) nicht gemacht sind. Ein Ja also auch zu Konzessionen. Und ein Ja zu dem exklusiven Wissen um den Standort von Zucker- und Teedosen. Margarete und Alexander Mitscherlich waren nicht nur Lebenspartner, sie waren auch Arbeitspartner. Die wichtigsten Arbeiten von beiden sind während des gemeinsamen Lebens gemacht worden. Einiges haben sie zusammen getan und geschrieben, so „Die Unfähigkeit zu trauern“, das bekannteste Mitscherlich-Buch, dem ein Aufsatz von ihr den Titel gab, und das trotz gemeinsamer Signatur de facto lange vor allem ihm zugeschrieben wurde.

Darauf müssen Frauen gefasst sein, wenn sie mit Männern arbeiten. Das blieb selbst dem weiblichen Teil des bedeutend unkonventioneller und formell unabhängiger lebenden Paares Sartre/Beauvoir nicht erspart. Sogar sie, die Frau, deren Namen die Freiheitsbestrebungen von Frauen in diesem Jahrhundert symbolisiert, sogar Beauvoir wurde an seiner Seite zum relativen Wesen degradiert. Privat wie beruflich. Sie wurde „la grande Sartreuse“, er allerdings nicht „le grand Beauvoirist“.

Um wie vieles stärker noch trifft es die Ehefrau. Nach Alexander Mitscherlichs Tod erschien aus der Feder eines gemeinsamen, engen Mitarbeiters in der „Frankfurter Rundschau“ eine, gutgemeinte, Hommage. Die Bedeutendsten unter denen, mit denen Alexander Mitscherlich gearbeitet hatte, die ihn geprägt, die von ihm gelernt und die ihn begleitet hatten, passierten darin Revue. Nur ein Name fehlte: der seines wichtigsten Mitarbeiters. Der Name des Mitarbeiters, mit dem er in den 50er Jahren die kritische Psychoanalyse zurück nach Deutschland geholt hatte, mit dem er in den 60er Jahren das Sigmund-Freud-Institut gegründet hatte, mit dem er über Jahrzehnte quasi jeden neuen Gedanken diskutiert und manchmal auch revidiert hatte. Der Name dieses Mitarbeiters fehlte, weil es eine Mitarbeiterin, schlimmer noch, weil es die eigene Frau war. Bei Mit- und Zuarbeit sind Frauen – und schon gar nicht die eigenen – traditionell eben nicht der Rede wert. Vermutlich hat es der gute, gemeinsame Mitarbeiter noch nicht einmal böse gemeint…

Doch beim Totschweigen blieb es nicht. Jetzt, da ER nicht mehr da war, ging die Hexenjagd erst richtig los. Zweier Vergehen hatte sich die Angeklagte schuldig gemacht: erstens des offenen Bekenntnisses zum Feminismus; zweitens der störrischen Verweigerung einer Witwenverbrennung.

Ein Beispiel nur von vielen möglichen: Als Margarete Mitscherlich Ende 1983 zum Erscheinen des Gesamtwerkes ihres Mannes (der im Juni 1982 gestorben war) auf eine für sein Werk werbende Lesereise ging, ist ein Bericht in der „Rhein-Neckar-Zeitung“ vom 28.12.1983: „Ein wenig Trauer, dachten wir, müsste ihr noch anzumerken sein, nicht einmal eineinhalb Jahre danach.“ Mit diesen Worten beginnt der Artikel eines gewissen Harald Wiesendanger. Dass die, ,attraktive Mittsechzigerin“ nichttrauernd und gebückt, sondern selbstbewusst und eigenständig auftrat, schien dem Rezensenten obszön und undankbar, denn: „Welche Witwe wird schon von einem Verlagsriesen auf Deutschlandtournee geschickt, die Werbetrommel für die Gesammelten Schriften eines Mannes zu rühren (…), dessen Namen sie trägt?“

In dieser Zeit bekam Margarete Mitscherlich-Nielsen in voller Wucht zu spüren, wie es einer engagierten Frau geht ohne Mann an ihrer Seite – in dessen Schatten aber auch Schutz sie steht.

Mit „Müssen wir hassen“, ihrem ersten eigenen Buch, hatte Margarete schon 1972 auch als Frau Farbe bekannt. Den vollen Manneszorn aber zog sie sich erst 1977 zu, mit ihrem Beitrag zur allerersten EMMA, Titel: „Ich bin Feministin“. Ich fand das damals mutig und bemerkenswert. Dass es tollkühn war, begriff ich erst später. Tatsächlich war Margarete Mitscherlich damit weltweit die erste Analytikerin, die sich öffentlich zum Feminismus bekannte. Wer weiß, dass der Feminismus für die herrschende Psychoanalyse auch heute noch eine Art Vampirismus ist, ahnt die Folgen. Margarete muss sie gewusst haben. Sie hat trotzdem nicht gezögert, es zu sagen.

So wie sie nie zögert, wenn sie etwas richtig findet. So ist sie eben: impulsiv bis cholerisch, naiv bis ausgeflippt, feministisch bis spontaneistisch. Sie hasst jegliche Bürokratie und Hierarchie. In ihrer Welt (die der zwar kritischen, aber doch auch bürgerlichen und patriarchalischen Intellektuellen) hat sich Margarete Mitscherlich-Nielsen mit Schwung zwischen alle Stühle gesetzt. Und ist ja auch prompt aufgeknallt. Dass sie dennoch wieder auf beiden Füßen steht, dazu haben, glaube ich, nur ganz wenige aus ihrer Welt beigetragen. Sie verdankt das eher anderen und vor allem der Erkenntnis, dass sie als Frau in einer Männerwelt so viel nun auch wieder nicht zu verlieren hat.

Margarete wird 70. Sie selbst wird vermutlich darüber nicht weniger verblüfft sein als wir.

„Ich habe den getragenen Ernst des Erwachsenseins eigentlich nie so richtig akzeptiert“, hat sie einmal in einem Gespräch mit mir gesagt. Für die Zukunft wünsche ich ihr vor allem eines: Dass sie das auch weiterhin nicht tut! Dass sie die kindlich neugierige, spielerische und respektlose Person bleibt, die sie ist. Denn genau das macht sie, bei aller Dazugehörigkeit, so unvereinnahmbar.

Alice Schwarzer

Auszug aus: „Befreiung zum Widerstand“ (S. Fischer Verlag)

Aus © EMMA 7/1987