Von Ute und Jürgen Habermas. Wir gratulieren Margarete Mitscherlich zum 70. Geburtstag.
Trotz ihrer unbarmherzig-gleichgültigen Konventionalität und Zufälligkeit sind es dann doch die vom Kalender diktierten Einschnitte, die den immer stärker beschleunigten Rhythmus der Jahre und der Jahrzehnte für kurze Momente unterbrechen. Haben wir nicht soeben noch Alexanders 70. Geburtstag in St. Gallen, in einem großen, weitgeöffneten Kreis gefeiert? Nun steht wieder ein Tag bevor, der zu einem Augenblick des erinnernden Innehaltens auffordert.
Wir haben Dich damals, vor 25 Jahren in Heidelberg, zuerst im Zusammensein mit Alexander kennengelernt. In dieser komplexen, spannungsreichen, vitalen und immer wieder strahlenden, ausstrahlenden Beziehung schien alles gebündelt zu sein, was Euch vorantrieb und interessierte. Ihr beide wart, mit Euren Gesten, Blicken, ritualisierten Kämpfen und Diskussionen, ein unwiderstehliches Paar. Niemals wieder haben wir lebhafter empfunden, was Interesse heißt: Dazwischensein, und Initiative: Anstoßgeben. Mathias und die gemeinsame Arbeit in der Klinik; Freud als Provokation, als überwältigend gegenwärtiger Klassiker, als fortgesetzter Prozess der Aneignung, als Mission; ein gesellschaftliches, offenes, intellektuelles Haus von großbürgerlichem Lebensstil; das weit gespannte Netz der professionell-freundschaftlichen Kontakte mit den Lehrern und Kollegen aus der Schweiz, aus Holland, aus London, New York und Kalifornien – in diesem Kontext haben wir Euch kennengelernt.
Alexander hatte seine Wurzeln immer noch in der heimischen psychosomatischen Medizin; auch sah ersieh unruhig und neugierig in der Kulturanthropologie um, in der Ethologie, in Sozialisationsforschung und Familiensoziologie. Aber Du warst es, Margarete, die aus London, aus der Erfahrung einer großen Analyse, aus dem Geist der heroischen Anfänge, aus der Begegnung mit Anna Freud, Paula Heimann und Melanie Klein einen authentischen Freud mitgebracht hatte. Jedenfalls bot sich uns, aus der Entfernung, dieses Bild: Als erste initiiert, warst Du die Autorität in Fragen der Textauslegung, der analytischen Praxis und beim Aufbau eines psychoanalytischen Ausbildungssystems in der Bundesrepublik. Du warst mit der neuen Lehre identifiziert, Du warst anerkannt als die Expertin. In Sachen psychoanalytischer Theorie hat Alexander bis zuletzt jeden seiner Gedanken an Deinem Widerspruch getestet. Ebenso hat jene erste Generation von Psychoanalytikern, die aus der Heidelberger Klinik hervorgegangen ist, von Deinem Eifer, Deinem Engagement, Deiner Kenntnis gezehrt. In Heidelberg hat sich die geistige Infrastruktur herausgebildet, die sich erst in Frankfurt (nach einer Übersiedlung, die Dir schwerfiel) einer größeren Öffentlichkeit darbot. Hier ging die Heidelberger Saat im Boden eines breiteren Kommunikationszusammenhangs auf, nämlich in dem einzigartigen Zusammenspiel von ,,Psyche“, Ausbildung, institutionalisierter Forschung, Professionspolitik, ausgreifender Publizistik und großangelegten Konferenzen. Damals kamen Paula Heimann, Rene Spitz und immer wieder die alten Freunde: Jeanne Lampl de Groot, Fritz Redlich, die Loewenfelds, Thure von Uexküll und Paul Parin.
Liebe Margarete, Du bist uns nie als Analytikerin begegnet. Wir haben nur sehen können, dass auch ein Analytiker abends aufatmet, wenn sich die Anspannung der Gespräche mit den Patienten gelockert hat. Vor allem haben wir gesehen, dass Leidenschaft für die Therapie, dass lebenslange kritische Auseinandersetzung mit der analytischen Theorie nicht davor bewahren, immer wieder selbst in den Sog schmerzender Konflikte und verletzender Konstellationen hineinzugeraten. Du hast Dich gegen die Verwundungen eines offensiv gelebten Lebens nicht immun machen können. Du hast am meisten gelitten an den Jahren, die einen kränker werdenden Alexander Schritt für Schritt von der aktiven Berufsarbeit, von der politischen Öffentlichkeit, vom intellektuellen Mittun, von Eurer Kooperation entfremdet haben. Anderes, wie der Abschied vom Institut, kam hinzu. Diese Jahre der Lösung, der Ablösung von vielem, woraus Du bis dahin gelebt hattest, liegen jetzt hinter Dir. Wenn irgend etwas Bewunderung verdient, dann der Umstand, wie Du in diesem letzten Jahrzehnt noch mehr Du selber geworden bist, wie Du Altes, nun ganz aus eigener Kraft, fortgesetzt und Neues begonnen hast.
Zusammen mit Alexander hattest Du die Studie über,, Die Unfähigkeit zu trauern „zu einer Stunde veröffentlicht, als die Nervenstränge der politischen Kulturdieses Landes durch kein anderes Buch deutlicher und heilsamer hätten erregt werden können. Du hast Dir diese Sensibilität für’s Zeitdiagnostische nicht nur bewahrt; inzwischen lebst Du so sehr aus Deiner Zeitgenossenschaft, dass Du immer wieder auf Themen der Stunde reagierst-auf eine nicht zu bewältigende Schuldfrage, auf den Antisemitismus und die Behandlung der Asylanten, auf die neurotischen Muster der Rüstungspolitik. Du schreibst und intervenierst zornig und aufklärend, parteinehmend und analytisch, aber nie Angst machend, immer auf der Hut vor den falschen Idealisierungen, immer auf den Spuren der Vergangenheit in der Gegenwart.
Du hast Dich schon früh mit der Psychoanalyse der Weiblichkeit befasst, mit Freuds Frauenbild und der Rolle des Penis-Neides. Du hast von Simone de Beauvoir gelernt, stehst in enger Verbindung mit Alice Schwarzer, hast Deine eigenen biographischen Erfahrungen verarbeitet. Aber dieses analytische Interesse hast Du inzwischen so wirkungsvoll in ein öffentliches Engagement verwandelt und in eine publizistische Ermutigungsarbeit umgesetzt, dass Du mit Deinem Auftreten und Deiner Person für eine ganze Generation jüngerer Frauen zum Vorbild geworden ist.
Du hast Dich von Anbeginn dafür eingesetzt, dass die Psychoanalyse als Beruf auch in Deutschland institutionalisiert wurde. Du hast Dich dann eine Weile im Zentrum der Macht eines stark ritualisierten und wenig transparenten Ausbildungssystems aufgehalten. Auch aus dieser Rolle hast Du Dich gelöst, nicht frei von Affekten und vielleicht sogar ein wenig ungerecht gegen das Produkt Deiner eigenen Arbeit. Die fällige Kritik an den Erstarrungen der institutionalisierten Psychoanalyse hat auch etwas von der Schonungslosigkeit einer Selbstkritik. Dabei fürchtest Du den Beifall falscher Freunde nicht: Für die Ignoranten Verächter der Psychoanalyse hast Du stets nur Verachtung übrig gehabt.
Du bist, liebe Margarete, eine streitbare Intellektuelle, das sehen heute alle; wenige sehen die massiven Kränkungen, die Du dafür in Kauf nehmen musst. Die Häme von „Nationalzeitung“ und „Bild“ gereicht Dir zur Ehre. Du bist mit einer deutschen Mutter und einem dänischen Vater aufgewachsen, mal jenseits, mal diesseits der dänisch-deutschen Grenze. Das hat Dich vor dem deutschen Mief bewahrt, vor einem Milieu, dessen vorurteilsbeladene Enge unsere Blicke arretiert und die Gefühle lähmt. Nichts regt Dich mehr auf als Deutsch-Provinzielles, mangelnder Kosmopolitismus, bodenständige Bornierung, fehlende Zivilisation. Deine Einstellung gegenüber Deutschland ist, so haben wir es uns zurechtgelegt, durch die doppelte Nationalität des Elternhauses und durch die Ambivalenzen der Eltern mitgeprägt. Obgleich schon als Schülerin gegen die NS-Umgebung sensibilisiert, mit ihr konfrontiert, von ihr abgeschreckt und verfolgt – das Gegenbild des zivilen und zivilisierten, des zivilcouragierten Dänen mit Deiner Mutter, Deiner Muttersprache und dem Land Deiner Mutter. Ein Vaterland, für das man stirbt, war es nie.
Aber doch „das eigene Land“, über das Du 1985 mit hinreißendem Charme vor dem begeisterten Publikum der Münchener Kammerspiele eine denkwürdige Rede gehalten hast.
Dass Du aus dem hellsichtigen Schmerz dieser Identifizierung auch in Zukunft kein Hehl machen mögest, wünschen Dir und uns allen
Ute und Jürgen Habermas
Auszug aus: „Befreiung zum Widerstand“ (S. Fischer Verlag)
Aus © EMMA 7/1987