Gar nicht friedfertig!

Gemeinhin ist es umgekehrt: Die Patientin, der Patient auf der Couch erzählt, die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich-Nielsen hört zu. Diesmal spricht sie. Über sich. – Bis 1972 war Margarete Mitscherlich-Nielsen im öffentlichen Bewußtsein die Frau von Alexander Mitscherlich. Punkt. Und das, obwohl sie als Leiterin des Ausbildungsausschusses die Psychoanalyse in der Bundesrepublik entscheidend geprägt hat, praktisch wie theoretisch. Und das, obwohl sie, zusammen mit ihrem Mann, Begründerin des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts ist. Und das, obwohl sie, zusammen mit ihrem Mann, Autorin von „Die Unfähigkeit zu trauern“ ist – der erhellendsten sozialpsychologischen Analyse des Deutschseins nach Hitler. Als kämpferische Frau, als nonkonformistische Analytikerin war Margarete Mitscherlich-Nielsen immer Kritik ausgesetzt. Zur wahren Hatz artete das allerdings 1982, nach dem Tod ihres Mannes, aus. Sie ist heute die bekannteste Psychoanalytikerin in der BRD und weit über die deutschen Grenzen hinaus übersetzt und anerkannt.

Alice Schwarzer: Wenn Margarete Mitscherlich-Nielsen sich selber charakterisieren sollte, im guten wie im bösen: wie beschreibt sie sich?
Margarete Mitscherlich
: Komisch, das merkwürdige ist, daß ich mich so lange nicht mit mir beschäftigt habe… Ich weiß wirklich im Moment nicht, was meine typischen Charaktereigenschaften sind.

Es gibt doch sicherlich einige.
Ich möchte sagen, ein Laisser-faire. Ich laß mir vieles durchgehen, weil ich es einfach nicht schaffe. Und solange ich noch in einer engen Zweierbeziehung lebte, war ich ein sehr eifersüchtiger Mensch. Ich hätte nicht vertragen können, daß Alexander mit anderen Frauen was hatte, wozu er durchaus eine Neigung hatte… Und da hatte ich auch oft Wut, Rivalitäten etc. Aber mit wem sollte ich heute Rivalitäten haben? Auf wen sollte ich eifersüchtig sein?

Mit einer Person wie dir verbindet man doch bestimmte Vorstellungen. Eine Psychoanalytikerin, die ist souverän und gelassen. Du  bist das, aber nicht nur das. Du bist gleichzeitig ein sehr aufbrausender Mensch. Du hast selbst mal gesagt, du seist cholerisch…
Jaja, ich kann sehr aufbrausend sein.

Eigentlich hast du doch recht wenig von einer deutschen Professorin, bist eher ein ziemlich wildes Temperament, das jederzeit bereit ist, auszubrechen, etwas zu machen, was sich eigentlich in deiner Situation nicht gehört. Das hat mich, als ich dich kennenlernte, am stärksten frappiert. Im kleinen Spielerischen äußert sich das ebenso wie im Großen. Zum Beispiel in dem EMMA-Bekenntnis 1977: „Ich bin Feministin“. Das war ja damals ein Skandal. Oder einfach darin, daß du dich auf der Straße aufführst wie ein junges Mädchen, auf einem Bein den Bordstein lang hüpfst.
Ich habe den getragenen Ernst des Erwachsenseins eigentlich nie so richtig akzeptiert. Gottseidank nicht. Eine Zeitlang war das so. Als ich zum Beispiel die psychoanalytische Ausbildung in der Bundesrepublik leiten mußte. Da bin ich froh, daß ich da raus kam. Ich habe auch keine Lust mehr zu leben, wenn ich so angepaßt sein muß. Ich mag ja auch nur die Menschen, mit denen ich gelegentlich ausflippen kann.

Es gibt ja so eine Art deutscher Klugscheißerei. Dieses sich immer Absichern, nie wagen, was zu denken, was vielleicht mal nicht stimmt oder von den eigenen Leuten nicht akzeptiert wird.
Ja, furchtbar, entsetzlich! Und das ist es eben, weswegen ich ja auch froh bin, muß ich ganz ehrlich sagen, daß ich aus diesen engeren psychoanalytischen Verhältnissen raus bin.

Du bist die bekannteste deutsche Psychoanalytikerin, aber gleichzeitig eine Außenseiterin in der eigenen Branche.
Jaja, keine Frage. Aber es ist sehr erleichternd, sehr befreiend auch, immer wieder ein Außenseiter zu sein. Man war ja in den 50er Jahren als Psychoanalytiker ein Außenseiter der bundesdeutschen Gesellschaft. Aber wenn man dann mehr oder weniger ein Insider wird und zum psychoanalytischen Establishment gehört, das ist schrecklich. Dann muß man sich wieder befreien. Und dazu hat mir unter anderem auch die Frauenbewegung geholfen.

Reden wir doch einmal von dir, deinem Leben, deiner Kindheit. Du bist es gewohnt, das Leben anderer auf der Couch erzählt zu bekommen. Wie war dein Leben, was sind deine wichtigen Prägungen?
Ich bin an der dänisch-deutschen Grenze in Dänemark geboren. Mein Vater war Arzt. Was Volkszugehörigkeit betrifft, wie man so schön sagt, fühlte er sich wie seine gesamte Familie seit Jahrhunderten als nationalbewußter Däne. Meine Mutter stammte aus Lütjenburg, in der Nähe von Lübeck, und war eigentlich als nationalbewußte Deutsche erzogen worden. So daß ich zwischen zwei verschiedenen Wertungen stand, was das Nationalbewußtsein betraf. Es war natürlich auch ein Land, das erst nach dem Zweiten Weltkrieg wieder dänisch wurde, ein Land, um das sehr viel gekämpft wurde zwischen Deutschen und Dänen, und das hin und her ging, mal war’s dänisch, mal war’s deutsch. Die ganze Kindheit meines Vaters zum Beispiel war sehr dadurch bestimmt worden, daß er als Kind sehr nationalbewußter Dänen in eine deutsche Schule gehen mußte. Und ich war geboren worden zu einer Zeit, nämlich 1917, als es noch deutsch war. Erst nach dem Kriege, 1920 war die Abstimmung, kam dieser Teil an Dänemark, weil die Mehrheit für Dänemark optiert hatte.

Wie war eigentlich deine Mutter?
Meine Mutter war eine sehr energische Person. Sie war eine geborene Leopold, der Vater war Pelzhändler, die Mutter eine geborene Freudenthal. Sie waren zwar sehr protestantisch und christlich, aber so ganz klar war es nie, wo beide eigentlich herkamen… Später, als sie Direktorin einer Höheren-Tochter-Schule wurde, hat sie noch einige Semester studiert, um den entsprechenden Abschluß für diese Qualifikation zu bekommen. Aber sie gab den Beruf bei der Eheschließung auf. Meinen Vater hat sie nie so geliebt wie ihren ersten verstorbenen Verlobten – und er wußte das auch.

Das kann ja auch so eine Art von Frauen sein, sich den Männern zu entziehen: indem sie irgendwelche längst Verstorbenen vorschieben… Das verschiebt ja dann auch von Anfang an die Machtverhältnisse zugunsten einer Frau.
Ja. Es war klar, daß meine Mutter der Mittelpunkt in der Familie war. Sie war die Lebendigere, so war mein Gefühl. Sie war die Interessiertere. Sie war eigentlich auch immer zum Lachen aufgelegt.

War sie auch die Intellektuellere?
Die Sache ist nicht ganz so einfach. Ich habe sie als die Intellektuellere empfunden. Sie las sehr viel, sie war literarisch sehr bewandert. Wenn ich mit ihr durch die Wälder und die Gärten ging, wußte sie jede Blume »mit deutschem und lateinischem Namen zu nennen. Sie konnte sehr schnell so Gelegenheitsgedichte machen, hatte hübsche Zeichentalente etc. etc. Sie half meinem Vater in der Praxis, sie half in der Schule aus, sie schmiß ihren Haushalt wie nix, es gab immer sehr gut zu essen, sie konnte fabelhaft kochen. Sie war für mich eigentlich eine allmächtige Frau, das gebe ich gerne zu.

Du hast ja sehr an ihr gehangen, und sie ist ja noch nicht lange tot. Sie ist ja fast 100 Jahre geworden.
Ja, 98…

Und sie ist ja bis über 90 noch nach Afrika gereist. Sie muß doch auch erschlagend gewesen sein. Hast du dich von ihr anerkannt gefühlt?
Ich fühlte mich sehr geliebt von ihr, das ist keine Frage. Ich war aber auch unendlich abhängig von ihr. Sie hat mich ja selbst in den ersten schulpflichtigen Jahren unterrichtet. Ich ging erst ab neun Jahren überhaupt zur Schule.

Wieso eigentlich?
Ich entschied mich, da ich mich natürlich total mit meiner Mutter identifizierte, für die deutsche Schule. Mein Bruder, der sich viel mehr mit meinem Vater eins fühlte und mit mir in Dauerkonkurrenz lag, ging auf die  dänische Schule. Naja, aber mich schickte sie erstmal auf gar keine. Das war sehr angenehm, da ich sehr viel Freiheit hatte. Ich war gewohnt, aufzustehen und rauszugehen, wann es mir in den Sinn kam. Das habe ich später auch ein paarmal in der Schule getan. Ich dachte nicht daran, pünktlich in die Schule zu kommen, es sei denn, meine Mutter schickte mich, Es war für mich nicht ganz einfach. Ich konnte mich sehr schwer an den Zwang gewöhnen, das habe ich vielleicht mein Lebtag nicht mehr richtig gelernt. Und ich hatte auch immer irgendwie Krach mit den Lehrern, hatte immer sehr schlechte Betragensnoten. Ich selbst fand mich zwar immer furchtbar lieb und furchtbar nett, aber… Aber Schwierigkeiten in der Schule hatte ich eigentlich nicht. Ich hatte eigentlich immer gute Zensuren, vor allem in Mathematik galt ich zeitweilig als Leuchte.

 Du hast sehr viel über das Deutschsein, über die Identität der Deutschen geschrieben. Ist es gerade diese Distanz und der Bruch deines Deutsch-Dänisch-Seins, was es möglich gemacht hat, da einen Schritt zurückzutreten und kritisch darauf zu blicken?
Ich habe mich zuerst auch sehr mit den Deutschen identifiziert. Ich denke, stärker, bewußter als jemand, der diesen Bruch nicht in der eigenen Familie hat. 1932, mit 14 Jahren kam ich dann nach Deutschland. Nach Flensburg. Da ging ich zur Schule, weil meine Familie noch Geld in Deutschland hatte, das sie aufgrund der Brüningschen Gesetze nicht mehr nach Dänemark transferieren konnte. Ich sollte dann davon zur Schule gehen und in Deutschland studieren. Da bekam mein Deutschtum seinen ersten Dämpfer. Das war doch eine sehr andere Mentalität. Ich hatte zum Beispiel die Neigung, viel zu laufen, ich fiel leicht hin, und wenn ich das tat, dann wurde ich in Deutschland auch noch angefahren und wurde zur Beherrschung meiner selbst ermahnt. Wo hingegen, wenn mir das in Dänemark passierte, ich bemitleidet wurde, mir geholfen wurde. Nur noch Gehorsam und Sauberkeit. Das kannte ich ja eigentlich nicht. Meine Mutter hat es immer versucht, aber unsauber wurde deswegen nicht als moralisch minderwertig angesehen.

Und die Trennung von der Mutter, die so zentral für dich war?
Die war katastrophal.

Da bist du doch so ganz abrupt ins Erwachsenenleben gestoßen worden.
Ein Jahr lang, das weiß ich, habe ich meine Mutterangefleht, mich doch wieder zurückzunehmen. Aber sie hat immer gesagt – das habe ich ihr auch immer hoch angerechnet – du willst doch studieren, du möchtest doch Abitur machen, und es geht nun mal auch geldlich nicht anders. Und dann hat sie mich immer wieder überzeugt. Ich bin dann tränenüberströmt, wenn ich ein Wochenende zuhause war, wieder in mein deutsches Gefängnis gegangen. So habe ich es wirklich empfunden. Das hat ungefähr ein Jahr gedauert, und dann bin ich wirklich dadurch selbständig geworden.

Sie also hat vor allem Wert auf deine Ausbildung gelegt, hat nicht gesagt, heirate mal einen netten Mann oder so?
Darin war sie ganz klar! Mein Vater sagte immer, mein Gott, warum soll jetzt das ganze Geld da in Deutschland aufgebraucht werden. Dann kriegt sie eben keine Aussteuer. Darüber habe ich allerdings immer Hohn gelacht und gesagt: Nichts ist mir gleichgültiger als Aussteuer! Das war sehr früh, so mit 15 Jahren, ganz klar für mich. Ich habe dann zu meiner Mutter gesagt, ich will nicht heiraten, ich will zwar Kinder haben, das finde ich nämlich sehr schön, aber ich will auf gar keinen Fall heiraten. Das war ihr dann schon zuviel – aber daß ich nicht heiraten wollte, hat sie akzeptiert.

Sicher kommen wir nachher nochmal darauf, warum du dann trotzdem geheiratet hast. Du bist ja dann in Deutschland in den beginnenden Faschismus geraten.
Ich war ja trotz allem bis dahin in Freude mit meiner Mutter identifiziert und in dem Glauben, daß Deutsch, Deutschsein eigentlich viel besser ist als Dänischsein… Und das wurde mir dann allerdings nach 33, wo ich erstaunt mit angesehen habe, wie die Lehrer sich duckten, gründlich verleidet. Und dann sah ich plötzlich so in meiner Klasse diese BDM-Mädchen, in Uniform und noch geordneter, im Marschschritt – da schien mir alles so maßlos lächerlich.

Du hattest in der Schule eine Lehrerin, die für dich wichtig war. Und hattest in der Zeit auch die klassische Junge-Mädchen-Freundschaft?
Ich hatte immer innigste Jung-Mädchen-Freundschaften. Mit 13 übernachtete ich manchmal bei meiner besten Freundin, wir schmusten und sagten: So ist das wohl mit Mann und Frau… Es dauerte dann noch lange, bis ich mit einem Mann etwas ernsthaftes anfing. Erst kam noch diese Deutschlehrerin, die ich über alles liebte, Annie Meez, die uns Philosophie beigebracht hat, Literatur, aber nicht nur alte deutsche Literatur, sondern auch die verpönte Literatur der 20er Jahre. Wir waren begeistert. Sie war mein Idol. Sie war übrigens sehr häßlich, dick. Aber wir fanden sie einfach wunderschön. Sie war von der Statur her sicherlich nicht größer als ich, sehr breit und watschelte, obwohl sie erst Mitte 30 war, und hatte so ein rundes Gesicht mit Froschaugen. Aber sie war unglaublich ausdrucksfähig. Wir maßen die Schönheit an ihr. Mit Jutta gemeinsam – das war meine liebste Freundin – und noch ein oder zwei anderen Freundinnen schwärmten wir, gingen nachts um ihr Haus rum. Wenn Männer uns ansprachen, haben wir nur verächtlich gesagt, mit Männern sprechen wir nicht. Stattdessen rasten wir um ihr Haus und guckten nach, ob sie noch Licht hatte. Wir gingen sogar freiwillig nachmittags zum Philosophie-Unterricht, zum modernen Literaturunterricht etc. etc. Das war die absolute, tiefe Leidenschaft.

Zum Studieren bist du dann nach München gegangen.
Ja. Da mußte ich auch vorher in ein Arbeitslager, weil ich als politisch unzuverlässig eingestuft worden war und fast das Abitur nicht hätte machen dürfen, was eine absolute Katastrophe war.

Was mußte man da machen?
Da mußte man morgens die Fahne hissen und Hitlerlieder singen, da habe ich 20 Pfund abgenommen, das war alles furchtbar. Danach kriegte ich dann den Stempel, daß ich in Deutschland studieren durfte. Ich habe dann erst Geschichte, Deutsch, Literatur, Englisch studiert, in München.

Und warum hast du auf Medizin umgeschaltet?
Germanistik war dann auch sehr vom nationalsozialistischen Quatsch geprägt, und Geschichte auch. Mein Vater wollte immer, daß ich Medizin studierte. Da habe ich zu Medizin übergewechselt, obwohl natürlich Literatur mein Fach war, das war es, was mich hauptsächlich interessiert hatte.

Was ja auch später immer wieder durchgeschlagen hat. – Die politischen Verhältnisse sind damals doch auch sehr in dein ganz alltägliches Leben eingebrochen. Du hast auch später ganz konkret versucht, Widerstand zu leisten.
Ich konnte dann auch mit den Dänen jenseits der Grenze offen sprechen, aber mit den Deutschen nicht mehr. Das war ganz klar. Da hörte bei mir der deutsche Nationalismus auf. Mehrere Monate im Jahr war ich in Dänemark und hatte dann auch Beziehungen zu den verschiedensten Dänen. Aber auch in Deutschland waren wir natürlich eine Clique. Ich bin dann nie mit anderen Menschen zusammengekommen als solchen, die zunehmend Hitler haßten. Aber ich habe auch vor Angst gezittert während dieser ganzen Zeit. 1937 in München habe ich die Kristallnacht miterlebt, da wurde mir  schon klar, was man da konfrontiert ist. Daß, wenn man nur eine andere Meinung äußerte, man dann ganz schnell verschwindet.

Sicherlich waren die Freundschaften da sehr eng und spannungsfrei, oder? Alle Aggressionen gingen ja gegen den Außenfeind, gegen die bösen Faschisten.
Das war klar: es gab Gute und Böse. Die Bösen waren die Nazis und die Guten waren die, die gegen die Nazis waren. Und da gab es dann eigentlich gar keinen Unterschied, ob die nun rechts oder links waren. Eines Tages wurde dann klar, daß die Gestapo nach uns suchte. Unsere Wirtin später in Heidelberg, deren Mann SA-Mann war, hat uns aber sofort gewarnt und gesagt: Die Gestapo war da, da hat euch jemand angezeigt, wegen Wehrkraftzersetzung undsoweiter. Und ich muß sagen, wann Sie die Zimmer verlassen, dann wollen sie Ihre Zimmer durchsuchen. Da habe ich eine Todesangst gehabt. Ich hatte gar keine Lust, zu sterben, überhaupt nicht. Und ich hatte rasende Angst, wenn die anfangen, mich zu verhören, oder mich irgendeiner Folter unterziehen, daß ich meine Freunde verrate oder irgendwas gräßliches mit mir passiert.

Das ist dir dann aber erspart geblieben?
Die haben mich dann verhört, uns alle, aber ich war ja immer noch dänische Staatsangehörige, und die wollten ja eigentlich mit den Dänen nicht so unbedingt Trouble machen. Ich bin dann ja auch bald aus Deutschland weggegangen. Erst nach Dänemark, dann in die Schweiz.

War das damals das erste mal, daß du als Ärztin gearbeitet hast?
Ich habe in einigen dieser Durchgangslager mitgeholfen, in Dänemark, aber immer nur vorübergehend. Da kamen ja auch aus dem KZ die ganzen Leute, gingen durch das Land. Da hat man zum ersten mal wirklich die katastrophale Auswirkung gesehen. Ich meine, wir wußten alle, was passierte, aber nicht in dem Ausmaß.

Was wußtet ihr und was wußtet ihr nicht?
Also wir wußten, daß die Geisteskranken umgebracht werden. Wir wußten, daß Vergasungen stattfanden. Wir haben mal gesehen, das weiß ich noch, wie so ein Wagen, ein Lastwagen aus dem KZ kam, da kauerten die ganzen Häftlinge und vorne stand so ein SS-Mann und schwang die Peitsche. Diesen Anblick habe ich nie vergessen. Seit 1939 hörten wir regelmäßig das englische Radio. Daß KZs da waren, daß die Leute mißhandelt wurde, daß sie vergast wurden, daß alles wußten wir – nur nicht in dem tatsächlichen Ausmaß.

Weil das so unvorstellbar war?
Ja. Man weiß ja auch, daß die Polen versucht haben, von Auschwitz aus die Engländer zu informieren, und die Engländer das Material erst viel später gebracht haben.

In der Schweiz hast du dann ziemlich bald Alexander Mitscherlich getroffen.
1947.

Alexander war damals ja noch verheiratet, und ihr wart sozusagen illegitim zusammen. Das bedeutet ja auch was für die Beziehung. Euer gemeinsames Kind, das 1949 zur Welt kam, war erstmal unehelich. Das war ja damals noch gar nicht so einfach.
Nein, das war natürlich nicht einfach, das war ganz klar. Du kannst dir ja auch die 50er Jahre noch vorstellen. Wir haben aber eigentlich auch gar nicht an Heirat gedacht, muß ich sagen. Wir hatten uns da in der Schweiz getroffen, 1947, da gab es so gut wie überhaupt keine Deutschen da, nicht, und überhaupt sehr wenig Ausländer. Und da waren wir quasi in einem ganz anderen Land, in einer ganz anderen Situation.

Wie ist die Psychoanalyse dann aufgetaucht? War das eine gemeinsame Sache? Hat das einer von euch zuerst reingebracht?
Die Psychoanalyse interessierte mich schon lange. Anfangs habe ich allerdings noch wenig unterscheiden gelernt zwischen Jung und Freud. Ohne Zweifel wurde mein Interesse dann intensiviert durch die Beziehung zu Alexander. Er war schon seit langer Zeit an der Psychoanalyse interessiert.

Du hast damals noch in einer antroposophischen Klinik gearbeitet.
Das war nichts für mich, bei aller Bewunderung für die Antroposophie… gleichzeitig war das eben eine religiöse Sekte, das ließ sich einfach nicht verleugnen. Sodaß ich da dann meine Zelte abbrach und noch eine Zeitlang in Zürich war, in einer orthopädischen Klinik, wo ich die Medizin sehr „down to earth“ lernte, das heißt, als schlicht irdische Wissenschaft. Und dann war ich schwanger. Um Gotteswillen, da konnte ich ja nicht in der moralischen Schweiz bleiben. . .

Wie alt warst du da?
Da war ich 30 Jahre alt. Ich hatte ja auch meine erste langjährige Beziehung hinter mir, die blieb in Dänemark. Ich hatte in der Schweiz einen ganzen Teil Geld verdient, für damalige Verhältnisse, für 20 Franken kriegte ich 100 Mark. Das habe ich alles umgetauscht, habe es in meine Taschen gesteckt, überall. Ich hatte mir einen weiten Mantel gekauft, einen todschicken weiten Mantel. Und als ich über die Grenze kam, wurde ich reingerufen in so ein Kabuff. Na, dachte ich, was soll das jetzt werden. Dann hat mir die Beamtin wirklich aus allen Taschen mein Geld rausgeholt. Man durfte ja nur eine kleine Summe mitnehmen. Da habe ich ihr meine Situation erzählt, ich sei schwanger und ich hätte in Deutschland kein Geld – da hat sie mir wieder alles in die Taschen gesteckt.

Die hast du eigentlich öfter getroffen, diese Art von Frauensolidarität, nicht?
Ich habe eigentlich mit Frauen – von meiner Mutter angefangen, die mir erlaubte, mich von ihr selbständig zu machen – über all die Jahre vor allem Positives erlebt. Ich kann es nicht anders sagen, Ich habe sehr selten die dunkle Seite der Frauen kennengelernt, bei meinen Freundinnen eigentlich so gut wie nie.

Wie kamst du konkret zur Psychoanalyse?
In Stuttgart. Da begann ich eine Eigenanalyse.

Aus wissenschaftlichem Interesse oder war das auch ein persönlicher Druck?
Beides. Ich hatte immer das große Bedürfnis, mich mit mir selber auseinanderzusetzen. Ich habe das sehr gerne getan. Ich wollte  allerdings von vornherein Psychotherapeutin werden. 1950 habe ich meine Analyse bei Vilma Popescu begonnen. Frau Popescu war eine Rumänin, die nach einigen Jahren nach Kanada ging. Sie hatte, glaube ich, in Wien ihre Ausbildung gemacht. Gleichzeitig habe ich am Stuttgarter Institut meine psychotherapeutische Ausbildung begonnen.

Warum bist du Psychoanalytikerin geworden?
Ich war prädestiniert dazu, Psychoanalytikerin zu werden. Ich habe ja schon öfter auch darüber geschrieben. Ich habe mich wirklich solange ich denken kann für psychologische Prozesse interessiert. Ich habe mir immer über meine Mutter psychologische Gedanken gemacht: Was denkt sie eigentlich, was fühlt sie eigentlich, wie glücklich ist sie, wie unglücklich? Mein erster bewußter Impuls, an den ich mich erinnere, ist: Wie kann ich meine Mutter glücklich machen? Als ich anfing, mit der Psychotherapie bei Frau Popescu im Stuttgarter Institut, war ich keineswegs so freudianisch orientiert wie später. Das Gefühl, daß Psychoanalyse wirklich erhellend, aufklärend und eindeutig ist, mir etwas brachte, was mir niemand sonst erklären und zeigen konnte – das Gefühl habe ich erst in London kennengelernt. Ich machte dort nochmal eine Analyse bei Baiint. Da habe ich diese ganze Londoner Atmosphäre kennengelernt, die ja eigentlich die ursprünglich Wiener Atmosphäre war – Freud und auch fast alle Berliner Analytiker waren ja nach London gegangen. Da habe ich Dinge kapiert, die ich vorher nie kapiert habe, in mir selber, außerhalb von mir selber. Das war ein einschneidendes Erlebnis.

Was bedeutete das konkret?
Erstens wurde ich ganz anders mit meinen Aggressionen konfrontiert, mit meinen Wiederholungszwängen, meiner Ambivalenz auch meiner geliebten Mutter gegenüber, meinem Vater gegenüber. Also, was da an innerseelischen Vorgängen zu dem und dem geführt hat und mich so und so hat reagieren lassen, und mich für das und das hat blind machen lassen, nämlich für meine Idealisierungen und Aggressionen insbesondere. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Es ist schmerzlich und schrecklich, aber ja, so ist es. Und seitdem habe ich natürlich neu idealisiert, das gehört ja wohl immer dazu.

Wen, Freud?
Ja. Aber, ich bin heute nach wie vor Freudianerin. Daß Freud etwas zusammenfaßte, was eh und je gesehen wurde, aber was nie in einer Theorie und in der Konsequenz, in der Differenzierung in einem alles umfassenden Gebäude zusammengebracht wurde, das bleibt wahr. Es war nichts neues, was Freud mit dem Ödipus entdeckte, aber er entdeckte es hier und jetzt in einer modernen Gesellschaft und faßte es in einer Theorie zusammen, die dann immer weiter und weiter ausgearbeitet wurde. Was er von den Frauen sagte, das war natürlich auch gesehen mit den Augen seiner Zeit.

Er hat ja aber doch in einer Zeit gelebt, in der es die erste Frauenbewegung schon gab, die Männerwelt also auf den Frauenkampf reagiert hat. Das hätte er auch aufnehmen können.
Das hat er getan. Er hat seiner damaligen Verlobten geschrieben, das ist alles gut und schön, natürlich sollten die Frauen mehr Rechte haben, natürlich ist die Frau seit Jahrhunderten nicht genügend anerkannt. Aber ich kann mir doch nicht vorstellen, daß eine Frau genau wie ein Mann werden soll. Den Brief habe ich auch öfter zitiert. Man darf aber auch nicht vergessen, daß Psychoanalytiker zu werden, mindestens ein solcher Frauenberuf war wie Männerberuf, nur in Amerika nicht.

Klar, weil das ihr Geschäft ist, das Sich-Einfühlen in andere…
Genau. Aber ich wollte damit nur sagen, Freuds Phallozentrismus stand im Einklang mit seiner Kultur. Auf der anderen Seite war er sicher einer der wenigen Männer, der die Hysterie bei den Männern zuerst gesehen hat, weswegen er ja aus der Universität mehr oder weniger ausscheiden mußte. Also Freud war jemand, der einerseits natürlich den Phallozentrismus gesehen und mitgemacht hat, andererseits die Weiblichkeitswünsche der Männer und die Fragwürdigkeit des nazistischen Phallozentrismus sehr deutlich beschrieben hat.

Als Kreativer wird er ja nicht so blöd gewesen sein, die neuen Erkenntnisse der damaligen Feministinnen links liegenzulassen…
Genau, er war gewiß nicht blöd. Sicher, sein Penisneid… Aber er hat natürlich auch den Brustneid gesehen. Er hat den enormen Neid des Mannes auf die Frau beschrieben. Er hat gesehen, daß wir alle schließlich und endlich ganz anders abhängig sind, und zwar früher von der Frau als vom Mann, daß also die Frau, was kindliche Abhängigkeit betrifft, die Mächtigere ist.

Aber wie weit hat er denn auch die realen Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen eingestanden? Da gibt es ja auch immer die Gefahr der Psychologisierung, daß man also abstrahiert von realen Machtverhältnissen. Der Penisneid hat ja den ganz realen Hintergrund des Neides auf die Rolle, nicht wahr?
Völlig klar. Freud war ja auch allgemeinpolitisch nicht sehr interessiert. Also er hat sich psychologisch und medizinisch in eine Außenseiterstellung begeben sondergleichen. Hätte er sich nun auch noch gesellschaftlich und politisch wirklich bewandert und kämpferisch zeigen müssen? Ich glaube in der Tat, das ist zu viel verlangt. Es gibt Grenzen dessen, was jemand zu leisten vermag, und das waren seine Grenzen.

Hast du diese Grenzen von Anfang an gesehen?
Nach London war Freud mein Vater, mein neuer Vater, wenn du so willst. Das heißt, mein allwissender Lehrer, mein Aufklärer, den ich gelesen und über alles bewundert habe. Das dauerte lange… Es dauerte eine Zeitlang, bis ich in der Lage war zu sagen: Freud hat mir unendlich viel vermittelt, das ist eine neue Art des Denkens, und das bleibt so. Daß ich aber gleichzeitig sehen konnte, daß er, was bestimmte gesellschaftliche Situationen, der Frau oder auch was allgemeinpolitisches anbetraf, dafür wenig Interesse gehabt hat und infolgedessen auf diesen Gebieten Grenzen hatte. Es dauerte lange, bis ich bereit war, zu sagen: Du darfst ja auch was sehen und denken, was er nicht gesehen hat.

Du bist dann nach der psychoanalytischen Ausbildung zurück nach Heidelberg gegangen.
Ende 1954 bin ich zurück, Anfang 1955 habe ich dann Alexander Mitscherlich geheiratet.

Warum habt ihr eigentlich geheiratet? Nachdem du vorher so gegen die Ehe warst.
Es ist überhaupt keine Frage, daß ich mit einem Teil meines Bewußtseins gegen die Ehe war, mit einem anderen Teil meines Bewußtseins aber mich sehr gerne in eine beruhigte Lage begab, eine sichere, bürgerliche Existenz. . .

Also wirklich die Frau von Mitscherlich sein, nachdem du so lange die illegale warst. . .
Das ist völlig klar!

Hast du die dänische Staatsangehörigkeit aufgeben müssen oder hast du damals nicht darauf geachtet?
Doch, doch, ich habe sie ja erst gar nicht aufgegeben. Ich bin dänische Staatsangehörige beglieben, bin dann erst, ich glaube, Anfang der 60er Jahre deutsche Staatsangehörige geworden. Ich gehörte halt auch nicht der Ärztekammer an und nichts, weil ich dänische Staatsangehörige war. Meine berufliche Situation war mühsam.

Hast du eigentlich von Anfang an deinen Namen beibehalten oder später wieder dazugenommen, wie viele Frauen?
Ich habe immer ganz einfach meinen eigenen Namen angehängt. Aber ich kann mich gesetzlich eigentlich nur Mitscherlich nennen.

Du warst doch dann für die damalige Bundesrepublik – wo der Faschismus doch die ganze Tradition der Psychoanalyse zerschlagen hatte – Anfang der 50er Jahre eine der ersten, die in London das psychoanalytische Handwerk wieder kennenlernte?
Es gab in Berlin eine Gruppe, die auch während des Krieges gearbeitet hatte, im bekannten Göring-Institut. Und ein Teil dieser Gruppe um Müller-Braunschweig herum wurde 1951 von der internationalen wieder als Deutsche Psychoanalytische Vereinigung anerkannt. Ich habe auch seinerzeit mein endgültiges Examen in Berlin ablegen müssen, um zur Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung zu gehören. Aber gleichzeitig bestand in Heidelberg die von Alexander Mitscherlich mit Hilfe der Rockefeller-Stiftung gegründete Psychosomatische Klinik. Ich bin 1951 dann ja schon zu dieser ganzen Geschichte gestoßen. Nur, ich war die erste dieser Gruppe, die in London Analyse gemacht hatte. Ich bin dann begeistert zurückgekommen, habe gesagt: Ihr versteht ja von nichts etwas! Dort gibt es wirklich die Psychoanalyse. Dort ist wirklich das ganz neue und die Wahrheit! Später sind dann auch andere nach London gegangen.

Und welche konkreten Aufgaben hast du in Heidelberg übernommen in diesen 50er Jahren?
Ich habe dann relativ schnell auch Ausbildung von Psychoanalytikern übernommen, Seminare, Lehranalysen, Kontrollanalysen.

Du warst auch lange die Leiterin des Psychoanalytischen Ausbildungsausschusses in der Bundesrepublik.
Ja, lange, über viele Jahre.

Das ist ein Ausschuß, der letztendlich darüber befindet, wer wird Analytiker und wer nicht. Du hast darüber ja auch geschrieben, immer wieder, hast ja auch kritisiert, daß die Ausbildung heute sehr formalisiert ist und hierarchisiert.
Viele haben mir auch den Vorwurf gemacht, daß ich ja schließlich zu Anfang bei der ganzen Initiation dieser Ausbildungsrichtlinien mit dabei war, und die haben vollkommen recht. Ich kam von England und habe auch die ganze Ausbildung – die ja nicht anders war als sie früher am Berliner Institut praktiziert wurde, am Wiener Institut war sie übrigens sehr viel freier – voll übernommen.

Das heißt?
Das heißt, in Deutschland war sie immer noch ein bißchen bürokratischer, typisch deutsch. Da hat man dann auch richtige Examen eingeführt. Zwar waren in London die Zulassungsbedingungen mindestens so streng wie in Deutschland, in England mußte man allerdings kein Mediziner sein, um Analytiker werden zu können. Das war nur in Amerika so. Dagegen hatte Freud schon protestiert. Der hat sich sehr für die Laienanalyse eingesetzt.

Berühmte Analytikerinnen wie Melanie Klein und die Freud-Tochter Anna waren ja alle Laienanalytiker, also nicht Mediziner.
Ja. Auf jeden Fall müssen wir heute versuchen, diese hierarchische Struktur und die autoritäre Einstellung mancher Psychoanalytiker, kurzum die ganze Art der Ausbildung mehr auf die ursprünglichen Wiener Richtlinien zurückzuführen, das heißt, mehr wirklich Kollegialität zu praktizieren. Ich halte es für sehr wichtig, daß eine Art der Ausbildung gefunden wird, wo klargestellt ist, daß es sich hier um zwei Erwachsene handelt. Also der Ausbildungskandidat, wenn man diesen Namen brauchen soll, ist ja ein Mann, der so erwachsen ist wie du und ich…

Oder eine Frau, kommt ja auch vor. . .
Stimmt, mehr Frauen als Männer… Es ist völlig klar, daß die Methode, in der man wirklich seinen freien Assoziationen freien Lauf läßt, immer auch zu einer Regression führt. Das heißt, beim Analysierten immer zu Erinnerungen und Erlebnissen aus der Kindheit führt und auch zu Wiederholungen von Verhaltensweisen etc. Dennoch muß in diese Ausbildung eingebaut werden, daß, sobald man aus dieser Situation, die in der Analyse unweigerlich manchmal entsteht und dann analysiert wird, heraus ist, die übrige Ausbildung auf einer Stufe von Erwachsenen unter Erwachsenen stattfindet.

Ein hierarchisches Verhältnis zwischen Lehrer/in und Lehranalysand/in wird sich dann ja meist auch auf das Verhältnis Analytiker/in / Patient/in verlängern.
Genau. Das ist die Gefahr. Aber der Analytiker darf auf gar keinen Fall diese Situation mißbrauchen! Es geht um die Möglichkeit, um die einigermaßen angstfreie Vorbedingung, daß der Patient oder der Analysand regredieren darf. Das muß er, sonst kann er ja bestimmte Dinge nicht wieder neu beleben und neu erleben, ohne Machtmißbrauch zu fürchten.

Wie ist dir das denn selbst in deinem Leben gegangen? Du machst jetzt seit über 30 Jahren Analysen. Die Menschen, die zu dir kommen, sind oft verzweifelt, und du bist ihnen aufgrund deines Wissens um Abläufe und seelische Mechanismen einfach überlegen. Hast du der Gefahr des Machtmißbrauchs immer widerstehen können?
Als Analytiker prüft man nicht nur seine Patienten. Sondern man wird auch dauernd von ihnen geprüft, ob man wirklich auf sie eingeht. Man versucht ja zu verstehen und sich einzusetzen. Da hört man eigentlich ganz von selber auf, sich in einer Machtposition zu fühlen. Daß man vom Patienten so erlebt wird, ist klar. Darum muß man auch versuchen, dem Patienten und Analysanden durch Deutungen oder Klärungen bewußt zu machen, zu was er einen da macht – ohne darüber hinwegzutäuschen, daß man natürlich hier als Helfender angst- und aggressionsfreier ist als derjenige, der Hilfe braucht. Das ist klar, dadurch gibt es schon ein Gefälle, aber das läßt sich nicht ändern. Nur, daß der Helfende sich immer wieder selber analysieren muß, um demjenigen, der Hilfe braucht, auch das zu geben, wonach er verlangt, das ist auch klar. Dieses Gefordertsein läßt so ein Triumpfgefühl, wie ich bin der Mächtige und er ist der Ohnmächtige, eigentlich überhaupt nicht zu.

Aber es wird sicherlich auch Analytiker geben, die sich nicht darauf einlassen. Man ist ja nur gefordert, wenn man sich dem stellt, oder?
Ich denke schon, daß der Analytiker auch Angst vor seinem Patienten hat. Er hat Angst, ihn nicht entsprechend zu verstehen. Und der Patient darf alles sagen, darf seine Kritik hemmungslos äußern, und das trifft oft einen wirklich empfindlichen Punkt beim Analytiker. Sofern es reine Projektionen sind, die völlig an der Wirklichkeit vorbeigehen, kann der Analytiker sehr gut damit umgehen. Aber wenn sie sehr nahe an die wirklich schwachen Punkte, und jeder von uns hat doch wirklich schwache Punkte, gehen, dann kann es auch sehr schmerzlich werden.

Aber das ist es doch nicht nur. Es besteht doch auch die Gefahr des Machtmißbrauchs.
Stimmt.

Wieviel Patienten/Patientinnen hast du im Schnitt?
Nicht mehr als durchschnittlich 5-6 Patienten am Tag.

Wie verkraftest du das ganz konkret? Da kommt man doch abends nach Hause und ist bis obenhin voll mit diesen Sachen.
Es gibt sehr, sehr kritische Momente, wo man auch große Sorgen hat um die Patienten, und da ist man wirklich bis obenhin voll, wie du sagst. Aber es gibt natürlich auch viele Patienten, wo es alles sehr langsam seinen Lauf nimmt, und wo du eigentlich nicht mit existentiellen Problemen täglich konfrontiert wirst.

Also wo es ein Stück dann auch Routine ist, wie in jedem Beruf. – Kommen wir auf die Zusammenarbeit mit Alexander. Es liegt auf der Hand, daß das eine Bereicherung war. Aber es war vermutlich auch eine Behinderung. Ihr habt zusammen gearbeitet, ihr seid so weit gegangen, zusammen zu schreiben, „Die Unfähigkeit zu trauern“ zum Beispiel – aber dieses Buch wurde später fast ausschließlich ihm zugeschrieben. Das ist sicherlich auch ein schwieriges Kapitel für dich.
Das war es.

Was war dein Part bei dieser Zusammenarbeit? Was waren deine Stärken und deine Schwächen?
Ich habe viel gelesen und ihm dann das, was ich gelesen habe, verkürzt zugeführt. Er hatte eine gewisse Art, sehr frei assoziativ zu arbeiten, es war dann meine Sache, den roten Faden hineinzubringen. Ich habe Literatur beigebracht, Ideen, eigene Erfahrungen. Er war ein sehr anregender Mensch. Aber er kam natürlich gar nicht auf die Idee, für mich was zu lesen oder zu machen. Und er war auch nur ungern bereit, wenn ich was geschrieben hatte, das durchzulesen. Ich hatte immer das Gefühl, er habe ein größeres Vokabular zur Verfügung als ich. Also habe ich gesagt, lies das doch mal durch und sag doch mal, wo kann ich da noch was verbessern, den Stil verbessern etc. Ideen hatten wir immer unterschiedliche. Da hatte ich immer sehr meine eigenen und er natürlich auch.

Hattet ihr auch Differenzen in bezug auf die Psychoanalyse?
Ja, ja doch, wir haben oft gestritten miteinander. Ich war mehr individual-psychoanalytisch eingestellt als er, ich habe auch mehr psychoanalytische Arbeiten dieser Art gelesen. Er war mehr auf Sozialpsychologie und entsprechende Literatur eingestellt. Ich war schon in Heidelberg sehr mit Ausbildung und individualpsychologischen psychoanalytischen Dingen befaßt. Ich habe mehr Leute ausgebildet, ich habe mehr Lehranalysen gemacht. Ich habe auch mehr Patienten gesehen als er. Er hat die ganzen Aufgaben, die mit einer Klinikleitung verbunden waren, wahrgenommen, später in Frankfurt beim Freud-Institut war das genauso. Ich hatte lange Zeit die Ausbildung unter mir, in Heidelberg und auch in Frankfurt, aber was Klinikleitung anbetraf, habe ich mich wenig eingemischt.

„Die Unfähigkeit zu trauern“ war euer einziges gemeinsames Buch. Wie habt ihr da gearbeitet? Habt ihr beide an denselben Aufsätzen geschrieben oder ist es eine Sammlung von Aufsätzen, wobei der eine mal von dir, der andere dann von Alexander war?
Einige Aufsätze waren von mir, einige von ihm. Der Hauptaufsatz, „Die Unfähigkeit zu trauern“, der das Buch ausmacht, war wirklich von uns beiden. Das heißt, ich habe zum Teil die Fälle geliefert, die psychoanalytischen Überlegungen dazu, die Literatur der Psychoanalyse. Und dann haben wir beide darüber geschrieben, und dann hat er heftig daran herumgemacht, was ich gemacht hatte, und ich habe heftig daran herumkritisiert, was er gemacht hatte. Widerstand habe ich natürlich von Anfang an geleistet, er aber auch. Es gab immer viel Auseinandersetzungen, weil ich, was Ideen anbetraf, auch immer zulieferte. Und dann kriegte ich die Wut. Aber auf der anderen Seite habe ich mir immer gesagt: Mensch, dann formuliere es doch selber, Margarete. Ich meine, er konnte ja nun wirklich nichts dafür, eigentlich, muß ich ehrlich sagen. Denn er hat mir ja alle Chancen gegeben, das selbst zu formulieren. Aber etwas in mir hatte immer das Gefühl, daß er besser formuliert. Und dann habe ich gedacht, warum ärgerst du dich denn so? Dann mach’s doch selber, verdammtnochmal!

Mit „Müssen wir hassen?“ bist du dann 1972 erstmals als Theoretikerin ins Bewußtsein der Öffentlichkeit getreten. Du hast mal gesagt, ich durfte klinisch gut sein und andere kreativ machen, aber in dem Moment, wo ich das selber war, da zog ich auch Aggressionen auf mich…
Sehr starke natürlich.

„Müssen wir hassen“ ist ja schon ein feministisches Buch sozusagen. Was war da der Auslöser?
Ich dachte, zum Teufel, die Frauen, die können tun, was sie wollen, die können arbeiten und die können Ideen hervorbringen etc., und dennoch kriegen sie nie die entsprechende Anerkennung. Aber es lag eigentlich an mir, ich hätte mich nur durchsetzen müssen. Es war nur so selbstverständlich, daß er die Hauptperson war. Es war so selbstverständlich…

Er war ja auch in seiner Art sehr selbstbewußt, eine richtige Diva.
Ja, „du bist unsere Diva“ – so haben wir ihn oft genannt, mein Sohn Matthias und ich.

Dann begann dein Widerstand ja nicht zufällig Anfang der 70er Jahre mit Beginn des neuen Feminismus. Du warst da ein Jahr in Amerika, bist da sicherlich auch mit der amerikanischen Frauenbewegung konfrontiert worden. . .
Natürlich! Da war ich auch wieder an einem Institut, wo eigentlich nur Männer als die Hauptpersonen angesehen wurden, und die Frauen, wenn sie Ideen hatten, nur selten. Da war ich dann mit anderen amerikanischen Frauen, die diese Wut auch ganz anders äußern und formulieren und durchsetzen konnten, zusammen.

1977 bekanntest du dann in der ersten EMMA: „Ich bin Feministin“ – ein sehr seltener Satz aus dem Munde einer Psychoanalytikerin.
Das war mir irgendwo schon lange klar! Und es war natürlich für mich auch eine Gelegenheit, das gebe ich zu, das endlich mal auf den Tisch zu knallen. Das habe ich dem Alexander, dem das schon zu viel wurde, immer gesagt: Mensch, du hast mich doch auch immer wieder aufmerksam gemacht auf die Ungerechtigkeiten der gesellschaftlichen Situation! Du hast zwar nicht unbedingt auf die Ungerechtigkeit der Situation der Frau aufmerksam gemacht, aber sonst. Er war ja jemand, der politisch viel interessierter war als ich. Ich war eher psychoanalytisch interessiert. Nachher hat er sich oft geärgert. Und in den letzten Jahren gings ihm ja auch nicht gut. Und da war es für ihn wirklich außerordentlich schwer, wenn ich dann wegfuhr, um einen Vortrag zu halten und ihn allein ließ. Das hat ihn wütend gemacht. Und da habe ich gesagt: Alexander, was willst du denn? Du hast mir beigebracht, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu sehen. Ich wäre brav im Individualpsychologischen geblieben.

Und was hat da der neue Feminismus dir als Anregung und Anstoß gegeben?
Die Studentenrevolution oder -bewegung war für mich schon eine sehr interessante Bewegung. Nur die Art und Weise, wie sie dann drohend und narzistisch und patriarchalisch mit diesen Erkenntnissen umgingen, das hat mich einerseits sehr berührt, aber gleichzeitig furchtbar wütend gemacht. Und als dann die Frauen diesen eitlen Männern auch innerhalb der sonst so fortschrittlichen Studentenbewegung eins vor die Brust gaben und die mit Tomaten bewarfen und sagten: Was macht ihr eigentlich, einerseits stellt ihr an die Gesellschaft Anforderungen, nicht hierarchisch, patriarchalisch etc. zu sein, und ihr selbst seid es uns gegenüber – das hat mir natürlich enormen Mut gegeben.

Zum Aha-Effekt der Psychoanalyse gesellte sich der Aha-Effekt des Feminismus.
Das war wirklich befreiend. Da konnte ich auch endlich, endlich all das, was ich untergründig schon lange gedacht und gefühlt habe, zuende denken und – schreiben.

Die richtige Hatz gegen dich als feministische Psychoanalytikerin ging ja erst nach dem Tod von Alexander Mitscherlich, ging erst 1982 los.
Ja, das war schon schlimm nach seinem Tode, wie da gegen mich angegangen wurde.

Also gegen dich angegangen wurde zum einen aus dem Kreis der Psychoanalytiker, denen zwei Dinge nicht recht waren: die unabhängig denkende Frau und die kritisch denkende Kollegin.
Ja, die kritisch denkende Kollegin, die sich jetzt plötzlich behauptete, anstatt nun endlich den Mund zu halten, nachdem der Mann nicht mehr da ist, dem gegenüber natürlich auch viele untergründige Ressentiments bestanden. Viele dieser untergründigen Ressentiments wurden auf mich verschoben, nachdem ich mich nicht in den erhofften Rückzug begab als trauernde Witwe.

Du hast einerseits doch ein sehr, wenn ich so sagen darf, sympathisches Mißtrauen gegen Macht, aber auch ein bißchen, scheint mir, das weibliche Zögern. Du mußtest doch nach seinem Tod ganz neu sagen: Hier stehe ich jetzt. Ich bin im Zweifelsfalle nicht nur die Frau von Alexander Mitscherlich, die eine dicke Lippe riskiert, sondern ich bin ich: Margarete Mitscherlich-Nielsen, die zum Mikrophon greift, Bücher schreibt, Kontroversen austrägt…
Das habe ich auch schon vorher und in den letzten Jahren der Krankheit von Alexander getan, nur ich war trotzdem in der Öffentlichkeit immer noch die Frau von Alexander Mitscherlich.

Das meine ich.
Darum war für mich auch die ganze Frauenbewegung eine enorme Befreiung. Ich lernte wirklich, die Verantwortung für mich selbst völlig zu übernehmen. Ich hätte es längst früher tun können, aber es war auch sehr angenehm, sich in den Schutz eines berühmten Mannes zu begeben.

Du wirst ja auch gerade anläßlich der „Friedfertigen Frau“, die jetzt erschienen ist, viel auf dein Verständnis von Weiblichkeit und von Männlichkeit angesprochen werden. Man kann immer schwer Ratschläge geben, aber was hältst du heute für das Wesentliche für Frauen? In welche Richtung sollten Frauen arbeiten?
Tja. Darauf zu antworten, ist ja gar nicht so ganz einfach. Also, ich denke schon, daß Frauen versuchen sollten, sich von bestehenden Wertvorstellungen unabhängig zu machen. Die kritisch zu durchleuchten ! Denn alle Wertvorstellungen heut sind fast patriarchalischer Natur. Und die Frauen akzeptieren die und identifizieren sich damit. Vieles, was als wertvoll, als „typisch weiblicher Wert“ angesehen wird, ist von Männern gemacht und hat eigentlich mit Frauen und derem eigenen Selbstverständnis, wenn sie wirklich aufrichtig mit sich umgehen, sehr wenig zu tun. Also, ich glaube, da ist der Anfang, daß man sich selbständig macht vom Denken der Männer.

Daß man drauf pfeift, ob man anerkannt wird als Frau…
Ja. Es ist natürlich sehr schwer. Das Pfeifen auf alles ist häufig eine Abwehrstellung. Dann pfeifst du auf alles, hast es aber nicht durchdacht. Und dann kommt das, was man sehr häufig sagt, daß dann Frauen sich plötzlich wie Männer verhalten. Und genau die gleichen Dummheiten und Einschränkungen und Grausamkeiten und was weiß ich begehen wie Männer. Sie müssen sich wirklich überlegen, was willst du als Frau tun, mit welchen Wertvorstellungen kannst du dich einverstanden erklären, mit welchen nicht, aber sie müssen eigenständig sein. Dann kannst du auf alles pfeifen. Das heißt auch lange nicht, daß man das Wissen, das Männer haben, nun nicht haben sollte, um Gottes willen, so primitiv ist das nicht gedacht. Natürlich wird man versuchen, sich das Wissen anzueignen, was es gibt und was einen interessiert und was man verkraften kann. Es sich so weit wie möglich zu eigen zu machen, und wahrzunehmen, wie geht es eigentlich zu in dieser Welt. Aber kritisch, wie du sagst, mit Hilfe von Nachdenken. Und auch mit Hilfe von eigenen Erfahrungen, man ist ja auch kritisch aufgrund der eigenen Erfahrungen, die man gemacht hat. Und nicht nur im Sinne des Nachdenkens.

Was würdest du von dir selbst sagen? Hat die Psychoanalyse dich selbst gestärkt? Und hat man auch als Psychoanalytiker Rückfälle?
Ich muß schon sagen, daß ich sehr viel profitiert habe. Ich habe immer gewußt, daß ich Grenzen habe. Ich konnte diese Grenzen erweitern mit Hilfe der Psychoanalyse, auch mit Hilfe zahlreicher Patienten, die mir immer neues beigebracht haben, was mir aus meinem eigenen Erleben nicht bewußt war. Ich weiß zum Beispiel, daß ich zu bestimmten Ängsten oder so keinen Grund habe, oder daß die da und da herstammen. Aber daß ich sie dennoch habe, nehme ich eigentlich als etwas Selbstverständliches hin. Ich habe lange Zeit so große Angst vor Enge gehabt, kann sie heute auch noch haben, wenn ich in Aufzügen stecken bleibe, kann sie mich durchaus überkommen. Ich bin dem nachgegangen, auf ihre psychologischen Gründe, auf meine individuellen Erinnerungen, Kindheitssituationen, und habe es lange einigermaßen gewußt, woher sie kamen – und es hat sich nichts geändert. Und dann, eines Tages, waren viele Ängste mehr oder weniger verschwunden.

Es braucht seine Zeit…
… und manchmal verschwindet es nie.

Und du würdest sagen, sich damit abzufinden, ist eigentlich auch schon ein Fortschritt?
Also ich persönlich glaube, daß man bestimmte Einsichten hat, daß man aber auch weiß, daß deswegen bestimmte Symptome oder Eigenarten so schnell nicht verschwinden. Früher habe ich sehr viel mehr gelitten unter meinen Fehlern und Symptomen. Heute sind manche Symptome verschwunden, Fehler sicher nicht, aber ich bin sehr viel toleranter mit mir…

Gibt es Psychoanalytikerinnen heute in der Bundesrepublik, jüngere, die sagen würden, die Margarete Mitscherlich ist mir eine Ermutigung und ein leuchtendes Beispiel in vielem? Gibt es welche, die sich offen auf dich berufen?
Sehr wenige, würde ich denken. Es ist natürlich auch schwer als Psychoanalytikerin, wenn du Leute in Ausbildung hast, du gehst ja auf die ein, und du wirst dich ja nicht ihnen aufzwingen oder prägend auf sie wirken wollen, sondern willst versuchen, sie zu verstehen, sie dazu zu kriegen, ihren eigenen Weg zu gehen. Also so eine Mutter oder so etwas für sie darstellen zu wollen, die man dann idealisiert, das wäre für sie ja ganz ungünstig.

Und du hast sehr viele ausgebildet von den Psychoanalytikern, die heute praktizieren?
Ich habe viele ausgebildet und finde es auch vollkommen richtig, daß die ihre eigenen Wege gehen…

Du hast in deinem Abituraufsatz über Kleist geschrieben. Und was dich besonders bewegt hat bei Kleist, war die Leidenschaft. Leidenschaft für die Sache und für die Arbeit.
. . . aber auch für den Menschen. . .

Du hast ja dir dein Leben über eben auch Leidenschaft für die Arbeit zugestanden. Aber es gibt Momente, Stellen in deinen Texten, wo ich das Gefühl habe: Du hast dir nicht genug Zeit genommen, du hast dir nicht die Leidenschaft zugestanden, du hast deine Arbeit in dem Moment selbst nicht ernst genug genommen. Steht dir da manchmal deine Weiblichkeit im Weg?
Das glaube ich eigentlich nicht. Ich glaube, es ist eher meine gewisse Unordnung. Ich bin immer wieder in einer Situation, wo ich bis oben voll bin und vor allem dann zum Schreiben und Denken nicht genug Zeit habe. Ich meine, ich möchte nicht meine Patienten aufgeben, weil ich sehr viel lerne durch diese tägliche Auseinandersetzung mit dem unmittelbaren Erleben und auch durch Konfrontation mit anderem Denken und mit Kritik. Nur irgendwie lebe ich ein bißchen zu sehr mit heraushängender Zunge. Also die Organisierung meiner Zeit und meiner Kraft, daran hapert’s.

Aber sowas ist doch auf Dauer kein Zufall.
Ja. Aber dann kommen immer wieder so und so viele Menschen. . .

Dann verwahrst du dein Enkelkind, anstatt an deinem Buch weiterzuschreiben. . .
Völlig richtig. Oder es kommen Patienten, die früher bei mir waren oder jetzt bei mir sind. . .

. . . und du mußt dich kümmern. Dir arbeitet natürlich niemand zu. Du bist eine Frau und einer Frau arbeitet niemand zu. Niemand sagt: Die große Margarete Mitscherlich-Nielsen muß jetzt endlich zum Denken kommen, sondern. . .
. . . nein, sie müßte eigentlich überhaupt nicht, sondern sie müßte für andere da sein. Und ich bin ja auch gern für andere da, das gebe ich ja zu.

Es gibt aber so viele Menschen auf der Welt und die wirst du nicht alle zufriedenstellen können.
Aber das ist die Schwierigkeit: Nein zu sagen. Und das ist klar, das habe ich auch bei meiner Mutter erlebt, daß die menschlichen Beziehungen immer an erster Stelle stehen.

Woran möchtest du in Zukunft weiterarbeiten?
Also, im grunde möchte ich ausführen, wie Frauen verformt werden und gleichzeitig aus ihrer Verformung auch wieder neue Formen bringen könnten. Wie die Weiblichkeitstheorien oder auch Männlichkeitstheorien mit den jeweiligen politischen Fehlentwicklungen zusammenhängen. Das wäre etwas, um das ich mich weiterhin kümmern möchte. Ich möchte die Analyse der „Unfähigkeit zu trauern“ weiterentwickeln, möchte untersuchen, welche Auswirkungen Männlichkeits- und Weiblichkeitswahn auf die Politik und auf unser Leben hat. Das heißt, ich möchte fragen: Wie kommt eine sich wiederholende, unglückliche Politik zustande, die von Männern und Frauen gemacht wird?! Und wie weit hängen die mit spezifischen weiblichen und männlichen Entwicklungen zusammen? Ich möchte diese Brücke schaffen zwischen den individuellen Erlebnissen einerseits und den gesellschaftlichen andererseits und: den Schlüssen, die man daraus zieht. Auch Erziehung ist ja noch nicht alles. Sie determiniert einen Menschen nicht lebenslang. Die Erziehung ist eines – das, was ein Mensch letztendlich daraus macht, ist ein anderes. Das gilt für Männer. Aber auch für Frauen.

Aus: © EMMA 7/1985 (Foto: © Mara Eggert)