Frauen und Macht

Wie kann man sich die Wiederbelebung der Frauenbewegung psychologisch erklären, die Wiederbelebung, die erst mit und nach der Studentenrevolte, also etwa Ende der sechziger Jahre, einsetzte? Ihre Initiatoren waren Frauen, die meistens in den vierziger Jahren geboren worden waren, also oft noch das Vorbild einer durchaus selbständigen Mutter vor Augen hatten, die sich inner- und außerfamiliär durchsetzen mußte und konnte. Die Väter dagegen waren abwesend oder mehr oder weniger gebrochen aus dem Krieg zurückgekehrt.

Diese Generation von Frauen, von denen viele Ende der sechziger Jahre an der Studentenbewegung teilnahmen, hatte sich in den fünfziger Jahren – wie ihre Mütter – der Familienrestauration meist angepaßt. Man kann aber annehmen, daß eine Sehnsucht nach der selbständigen und bestimmenden Mutter der frühen Kindheitsjahre unbewußt bestehen blieb und durch die fehlende Sicherheit der Beziehung zum lange abwesenden und in seinem Selbstwertgefühl gebrochenen Vater verstärkt wurde.

Als diese Frauen später aktiv an der Frauenbewegung teilnahmen, geschah das dennoch nicht nur in Identifikation mit der tüchtigen Mutter, sondern auch mit der Absicht, innerlich unabhängiger von ihr zu werden. Sich mit anderen Frauen solidarisch fühlen zu können, bestärkte diesen Wunsch. Denn die allzu große Abhängigkeit von der allein erziehenden Mutter hatte auch untergründige Gefühle des Hasses ausgelöst, deren Folge wiederum Schuldgefühle und depressive Verstimmungen waren.

Ende der sechziger Jahre identifizierten sich viele der Studentinnen anfänglich mit den männlichen Kommilitonen, für die Gehorsam und Gleichschaltung nicht mehr das oberste Gesetz des Verhaltens waren, und übernahmen deren antiautoritäre Haltung. Gleichzeitig litten sie unter der doppelten Geschlechtermoral ihrer Genossen, die von ihnen wie eh und  je die Unterordnung verlangten. Auch und gerade in der Studentenbewegung wurden sich die Frauen zunehmend der patriarchalischen Herrschaftsverhältnisse bewußt und erkannten ihre sadomasochistische Grundlage, das heißt die Lust vieler Männer am Unterdrücken und die Bereitwilligkeit allzu vieler Frauen, sich unterdrücken zu lassen.

Herrschaft kann nur aufrechterhalten werden, wenn sie sich auf verschleierte sadomasochistische Befriedigung aufbaut. Dann verbindet sich die Lust am Erteilen von Befehlen mit der Lust, die Befehlshaber zu befriedigen und Gehorsam, Ordnung, Unterwerfung zu genießen. Natürlich gibt es zwischenmenschliche Beziehungen dieser Art nicht nur zwischen Mann und Frau, sondern auch zwischen Mitgliedern des gleichen Geschlechts, Beziehungen also, die nicht nur Lust, sondern auch heftige untergründige Aggressionen hervorrufen. Ohne eine solche sadomasochistische Gesellschaftsstruktur können Kriege nur schwerlich geführt werden.

Man kann nur einem Herren dienen, so heißt es. Beginnt man, sich diese Gehorsamsideologie bewußt zu machen und sie in Frage zu stellen, lernt  man  auch  kritisch  zu denken, die verschiedenen Forderungen, Ideale und Wertvorstellungen gegeneinander abzuwägen, dann ist zumindest eine Voraussetzung gegeben, sich vom Zwang zur blinden Unterwerfung zu befreien.

Nachdem die Studentenbewegung mehr oder weniger in sich zusammengefallen war und sich die Männer dieser Generation der herrschenden Gesellschaftsstruktur weitgehend wieder angepaßt hatten, konnte sich die Frauenbewegung trotz aller Probleme, die sich innerhalb und außerhalb von ihr stellten, als gesellschaftlich wichtiger Prozeß erhalten.

Das erkennt man schon daran, daß sich auch in der CDU manche Politiker um ein gutes Verhältnis zur Frauenbewegung bemühen. Was die CDU unter Emanzipation der Frauen versteht, kann in der Broschüre „Die sanfte Macht der Familie“ nachgelesen werden. So rührend es erscheint, die irdische Misere durch weltweite Mütterlichkeit heilen zu wollen, wie Arbeitsminister Blüm es will, so empörend ist die Wirklichkeit, und die Doppelmoral, mit der unsere christlichen Politiker offenbar gut zu leben wissen und die sie nicht daran hindern, ihre Klischees „ohne falsche Scham“, wie es in dieser Broschüre heißt, zu äußern. Was hier mit „heiler Familie“ an Welterlösungsphantasien verbunden ist, kann man nur als Ausdruck „unverblümter“ Heuchelei ansehen.

In Wahrheit sind es die Mächtigen, die die Welt beherrschen. Dazu gehört die Macht der Männer über die Frauen, die Macht der Eltern über ihre Kinder. Folglich bestimmen die jeweils Herrschenden, was als Gewalt definiert wird. Um aber die Fronten zu verwirren, wird der Gewaltbegriff paradox verwendet. Wer gegen die Aufstellung von Raketen demonstriert, indem er beispielsweise den Verkehr blockiert, ist „gewalttätig“; wer Raketen aufstellt und so den Tod unzähliger Menschen ermöglicht, gilt als gewaltfrei.

Wenn es den Regierenden gefällt, ist auch der Pazifismus Gewalt und hat zum Zweiten Weltkrieg, sogar zu Auschwitz beigetragen. Der „Familienminister“ spricht auch dort von Gewalt, wo es um die Reform des Paragraphen 218 geht. Wer die Macht hat, bestimmt auch darüber, wer wann mütterlich und sanft zu sein hat, wer wann Kinder in die. Welt zu setzen hat,  welche Rolle die Frauen ohne Protest jeweils übernehmen, wann sie an lebensvernichtenden Kriegen teilnehmen, wann sie die „sanfte Macht der Familie“ zu stabilisieren, sich dafür zu opfern haben und ähnliches mehr.

Vor kurzem wurde ich gefragt, warum so viele Frauen Angst vor der Macht haben. Ob das damit zusammenhinge, daß Frauen größere Angst vor dem Verlust der Zuwendung ihrer Mitmenschen hätten als davor, unterdrückt zu werden. In dieser Frage war die Antwort bereits enthalten: Wer als Frau Macht hat, muß mit Liebesverlust rechnen. Eine solche Frau ist oft nicht nur dem Haß der Männer, sondern auch dem der Frauen, die sich machtlos fühlen, ausgesetzt.

Ich denke, jede von uns kennt den Zorn, den man als Frau im Beruf, in der Partnerschaft und als Mutter spürt, wenn man für alles und jedes zuständig zu sein hat, ohne die Macht zu haben, etwas zu ändern, oder wenn man sie aus Angst vor Ablehnung auch gar nicht haben möchte. Als Frauen neigen wir nach wie vor dazu, unsere untergründigen Aggressionen in Vorwurfs- und Opferhaltungen umzuwandeln und dadurch eine für uns wie für die Betroffenen wenig erfreuliche passive Aggression auszuüben.

Wer sich als Frau dazu entschließt, seine Fähigkeiten offen zu nutzen, selbständig Entscheidungen zu fällen, für Verhaltensänderungen bei sich und anderen zu kämpfen, seine Angst vor notwendigen Aggressionen zu überwinden, muß seine masochistische Unschulds- und Vorwurfshaltung aufgeben. Ich weiß, wie schwer das ist, aber ohne kritisches und selbstkritisches Aufbegehren gerade der Frauen kann und wird sich in dieser Gesellschaft nichts ändern.

Das setzt auch voraus, daß Frauen lernen, mit ihren Aggressionen bewußter umzugehen und Schuldgefühle besser zu ertragen. Wenn Frauen die Beziehung der Geschlechter untereinander ändern wollen, wird das nie ohne Aggressionen und Schmerzen vor sich gehen. Konflikte mit nahestehenden Menschen, im Beruf, vor allem mit dem Partner und in der Familie, werden unvermeidlich sein, müssen durchgearbeitet und dürfen nicht vermieden werden.

Ein weiteres Problem im Umgang mit weiblicher Aggression läßt sich unter der Überschrift „Mütter und Macht“ zusammenfassen. Auch in der Frauenbewegung war viel vom Haß auf die Mutter die Rede: Die Mutter behindere die Entwicklung der Tochter zur Selbständigkeit. Die Tochter könne sich von der Mutter nicht lösen, weil diese ihr nicht erlaube, die frühkindliche Abhängigkeit von ihr aufzugeben, ohne unter Schuldgefühlen und Verlassenheitsängsten zu leiden. Die Mutter verbiete der Tochter die Verfügung über den eigenen Körper, über die Sexualität. „Das Vermächtnis der Mutter ist die Kapitulation“, meinte Phyllis Chesler.

Um bestehende Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten, werden natürlich immer und überall Tricks angewendet, nicht nur in der Politik, auch in der Psychologie. Von beiden Seiten versucht man, die Frau davon zu überzeugen, daß sie die Macht in der Familie besitze. Nur indem sie diese Macht sanft ausübe, könne sie die bösen Verhältnisse in dieser Welt ändern. Allzu leicht lassen sich Frauen von solchen klischeehaften Verdrehungen der Wirklichkeit beeinflussen und beteuern dann schuldbewußt, daß sie doch gar keine Macht wollen.

Folglich fällt es vielen Frauen schwer, mit Macht umzugehen. Sie vermeiden es ängstlich, irgendwelche Positionen, die sie in Verbindung mit Macht oder Einfluß bringen können, zu übernehmen. Vermutlich nehmen sie die psychoanalytischen Vorstellungen von der Allmacht der Mutter, wie sie für das Erleben des abhängigen Kleinkindes bestehen, als gesellschaftlich real hin. Kindliche Phantasie und Realität werden einander gleichgesetzt, so daß gesellschaftliche Wirklichkeit nicht mehr unverzerrt wahrgenommen werden kann.

Das hat zur Folge, daß oft auch analytisch geschulte Frauen ihre Wünsche nach Selbständigkeit unterdrücken und – trotz besserem Wissen – ihre Aggressionen in eine masochistische Opferhaltung umwandeln. Mit dem Slogan „Die Mutter ist an allem schuld“ wurden Frauen erneut mit Schuldgefühlen überhäuft und zurück in die Rolle der abhängig Dienenden gedrängt.

Wenn aber Macht und Durchsetzungsvermögen von Frauen nicht nur von Männern bekämpft werden, sondern auch darüber hinaus der Verteufelung durch Geschlechtsgenossinnen ausgesetzt sind, lassen sich bestehende Geschlechter- und Machtverhältnisse nur schwerlich ändern. Tatsache ist, daß eine Frau, die Einfluß zu gewinnen versucht, um verhärtete Gesellschaftsstrukturen aufzubrechen, damit rechnen muß, auch in der Frauenbewegung abgelehnt zu werden. Sie identifiziere sich mit männlichen Verhaltensweisen und erweise damit der Frauenbewegung keinen Dienst, so hört man oft.

Wenn sich dem noch eine falsche, oft von Neid diktierte Gleichheitsideologie hinzugesellt, mit der eine Frau als unsolidarisch etikettiert wird, wenn sie auf diesem oder jenem Gebiet überdurchschnittliche Fähigkeiten und Durchsetzungsvermögen entwickelt, dann werden Frauen auch von ihresgleichen dazu gezwungen, ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten zu unterdrücken und ihre Aggressionen womöglich nur untereinander auszuleben.

Unter solchen Bedingungen darf etwas Neues nicht gedacht werden, können Verhaltensweisen sich nicht verändern, geht jegliche Kreativität verloren. Auch dagegen muß man sich als Frau zur Wehr setzen. Konfliktfreies und aggressionsloses Miteinanderleben wäre ein Pseudoparadies, in dem man, sofern es denn erreichbar wäre, wahrscheinlich vor Langeweile zugrundegehen würde.

Die „neue Mütterlichkeit“ als Rettungsphantasie und das überharmonisierende, Konflikte vermeidende Verhalten mancher Frauen in der Frauenbewegung zeigen, welche neuen Gefahren drohen und daß vieles, was Frauen bisher erreicht haben, durch eine politische „Wende“ wieder rückgängig gemacht werden soll.

Der Rückzug mancher Frauen in romantische Nostalgie, in mystische Vorstellungen, in religiöse Sekten oder auch in die Astrologie könnte man, psychoanalytisch gesehen, auch damit erklären, daß die heutige Generation junger Frauen sich in ihrer frühen Kindheit nicht mit den Müttern der Kriegs- und Nachkriegsjahre, die gelernt hatten, ein selbständiges Leben zu führen, identifiziert hat, sondern mit den Müttern der fünfziger Jahre, die sich in ihre frühere unkämpferische, untergeordnete Rolle wieder einfügten und die regressive antiaufklärerische Konsolidierung der Familien- und Geschlechterverhältnisse durch ihr Verhalten unterstützten.

Margarete Mitscherlich

Auszug aus: „Die friedfertige Frau“ (S. Fischer Verlag)

Aus: EMMA 3/1985