Margarete Mitscherlich über das Paar Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre. Sie bezieht sich auf die Bücher „Zeremonie des Abschieds“ von Beauvoir und „Simone de Beauvoir heute“ von Alice Schwarzer.
Simone de Beauvoir hat viele Erinnerungsbücher geschrieben. In den meisten von ihnen spielt ihre Beziehung zu Sartre eine wesentliche Rolle. Ebenso in ihren stark autobiographischen Romanen (wie „Sie kam und blieb“). Ihr letztes Buch „La ceremonie des Adieux“, das jetzt in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Die Zeremonie des Abschieds“ erschienen ist, stellt in seinem ersten Teil eine Chronik der letzten zehn Jahre mit Jean-Paul Sartre dar. Der zweite Teil des Buches besteht aus einem sich über mehrere hundert Seiten erstreckenden Interview.
Beauvoir begann diese Zwiegespräche mit Sartre, als seine Augen ihn zunehmend im Stich ließen und er beim Schreiben immer größere Schwierigkeiten bekam. Damit musste er mehr oder weniger aufgeben, was bisher den größten Teil seines Lebens beansprucht hatte: das Lesen und Schreiben.
In diesen Gesprächen werden fast alle Bereiche von Sartres Leben und Werk berührt und mehr oder weniger ausführlich diskutiert. Die Gespräche fanden im Sommer 1974 in Rom statt und wurden im Frühjahr des gleichen Jahres in Paris fortgesetzt. Sartre war offenbar zeitweise nur mit Mühe zu dieser gemeinsamen Auseinandersetzung mit ihm und über ihn zu bewegen. Auf die Frage Beauvoirs, ob er an einem Gespräch über die literarischen und philosophischen Seiten seines Werkes überhaupt interessiert sei, antwortet er: „Ja, es interessiert mich nicht wirklich; heute interessiert mich nichts. Aber da es mich viele Jahre sehr interessiert hat, möchte ich darüber sprechen.“ – Beauvoir: „Warum interessiert Sie heute nichts?“ – Sartre: „Ich weiß es nicht. Es ist vorbei, das alles. Ich versuche, darüber etwas zu sagen. Und ich finde nichts mehr, aber ich werde schon etwas finden.“
Und er findet dann auch eine ganze Menge. Beauvoir kündigt die Gespräche damit an, dass sie keine unerwarteten Enthüllungen über ihn bringen werden. Dennoch werden sie für viele eine Fundgrube sein, was manche Einzelheiten über Teile seiner Vergangenheit betrifft, die bisher nur wenig bekannt waren. Die Gespräche sind von dem Bedürfnis nach schonungsloser Ehrlichkeit geprägt, ein Bedürfnis, das von Anbeginn die Beziehung zwischen Beauvoir und Sartre bestimmt hat. Sie waren sehr jung, als sie sich kennenlernten, Simone 21 Jahre, Sartre zweieinhalb Jahre älter. Sartre war sich schon damals ziemlich im Klaren darüber, dass er nicht heiraten, keine Familie, keinen festen Wohnsitz haben, und sein Leben nicht mit Besitz belasten wollte. Simone war zwar anders erzogen, aber sie übernahm sehr bald seine Lebensanschauungen in diesem Bereich und heiratete ihn auch dann nicht, als er dazu bereit gewesen wäre.
Er erklärte ihr von vornherein, dass er polygam sei, wollte aber immer aufrichtig sein dürfen, nie lügen müssen. Dieses Versprechen scheinen sich bis zum Tode Sartres am 15.3.1980 gehalten zu haben, so zumindest stellen sich uns diese Gespräche dar. Dennoch wurde Beauvoir von Kritikern wiederholt vorgeworfen, dass ihre Aufrichtigkeit nur oberflächlich sei, beziehungsweise sich auf Gebiete beschränke, die sie gefühlsmäßig nicht tiefergehend berühren. So schreibt Rupert Neudeck 1982 in den Frankfurter Heften: „Das Überraschende an all den Erinnerungsbüchern der S.d.B. liegt darin, dass die Autorin und Lebensgefährtin Sartres über fast alles mit einer rigorosen Lust zur Verletzung bürgerlicher oder menschlicher Diskretionsgewohnheiten zu reden und zu schreiben bereit ist, nur über dieses Eine ganz und gar nicht: über die eigenen Beziehungen zu J.P.S. Das Eigeninteresse der Autorin, sich selbst in eine größere Rolle hineinzukatapultieren, als ihr in Sartres Leben wirklich gestellt war, das ja dann auf ein Ersatzbedürfnis beim Schreiben dieser Bücher hinliefe, darf man nach diesem letzten Band… nicht mehr ausschließen.“
Die Gehässigkeit, die hier die Haltung zu Beauvoir bestimmt, lässt aufhorchen. Dass insbesondere Männer sich so oft unfreundlich über Beauvoir ausgelassen haben, mutet merkwürdig an. Was an dieser Frau macht die Männer eigentlich so böse auf sie? Ist es ihre Intelligenz, ihre schriftstellerische Begabung, ihre Bedeutung im Leben eines „Großen“? Ist es ihre Fähigkeit, als Frau anders, freier, selbständiger das Leben zu gestalten, als es den meisten Frauen und Männern sonst gegeben ist?
Sie selber hat, wie behauptet wird, ihren Lesern das Versprechen gegeben, nichts zurückzuhalten. Im Vorwort ihres Buches „In den besten Jahren“, erschienen 1961 schreibt sie aber: „Ich muss jedoch gleich bemerken, dass ich nicht vorhabe, alles zu sagen. Ich habe meine Kindheit und meine Jugend geschildert, ohne etwas wegzulassen, aber wenn ich auch meine ferne Vergangenheit ohne Verlegenheit und ohne zu große Indiskretion bloßlegen konnte, so habe ich doch meinen reiferen Jahren gegenüber nicht diesen Abstand und verfüge auch nicht über die gleiche Freiheit. Es handelt sich hier nicht um Geschwätzigkeit über mich und meine Freunde; ich habe nichts übrig für Klatsch. Ich werde vieles entschlossen im Dunklen lassen … Ich habe mich in diesem Buch zu Auslassungen entschlossen, niemals zum Lügen.“
Beide, Sartre wie Beauvoir, haben sich oft freimütig zu ihrer Sexualität mit anderen geäußert, allerdings in der Tat nur selten über die sexuelle Beziehung zwischen ihnen beiden, was unter anderem auch Herr Neudeck ihnen zum Vorwurf macht. In den Gesprächen dieses Buches spricht Sartre über seine in gewissem Umfange bestehende psychische Frigidität – damit meint er, dass Zärtlichkeiten mit Frauen, sie streicheln zu können, ihm von großer Bedeutung gewesen war, dass er den unmittelbar sexuellen Akt zwar ausgeführt, aber nicht besonders genossen habe.
In einem Buch von Alice Schwarzer über ihre Gespräche mit Beauvoir spricht diese zwei Jahre nach dem Tode von Sartre über ihre Beziehung zu ihm, die sie als zärtlich und heiter beschreibt. Sie sagt: „Dass er in Bezug … auf sein Gefühlsleben ein totales Vertrauen in mich hatte, denn er erzählte mir alles, alle seine Geschichten, selbst die Details. Zum Beispiel seine Geschichte mit Wanda: Über alles, was er empfand, hielt er mich Tag für Tag auf dem Laufenden, über seine Krisen und Leidenschaften. Alice: „… Tat das nicht weh?“ Simone: „Nein. Wir hatten ein vollständiges gegenseitiges Vertrauen ineinander. Jeder wusste, dass der andere der wichtigste Mensch in seinem Leben ist, was auch immer kommen mag.“
In dieser Sicherheit, die aus den Worten Simones spricht, eine Sicherheit, die es für keinen Menschen auf der Welt gibt, geschweige denn für jemanden, der die Macht von Gefühlen, Phantasien und Gedanken kennt, steckt meines Erachtens viel Abwehr und, wenn man so will, auch viel Grausamkeit den Menschen gegenüber, denen sie erlaubten, sie zu lieben und ihnen nahe zu kommen. Denn sicherlich wird Beauvoir gelitten haben, wenn Sartre sich wieder einmal verliebte. Es werden auch die Männer und Frauen, mit denen Sartre und Beauvoir zeitweilig ihr Leben teilten, sehr unglücklich darüber gewesen sein, dass ihre Rolle in beider Leben immer zweitrangig blieb.
Diese unbewusste Grausamkeit frappiert bei sonst so bewusst lebenden Menschen, die ihre Gefühle und Handlungsweisen in zahlreichen Büchern zu reflektieren gewöhnt waren. Dazu Beauvoir im Gespräch mit Alice Schwarzer: „Hinzu kam, dass wir auch intellektuell viel zu selbstbewusst waren, um zu befürchten, dass eine andere Person wichtiger werden könnte. In der Tat interessierte der sexuelle Kontakt im engeren Sinne Sartre nicht sonderlich, er streichelte gern. Ich hingegen war sehr leidenschaftlich! Für mich war die Sexualität mit Sartre in den ersten zwei, drei Jahren sehr, sehr wichtig, da ich die Sexualität ja mit ihm entdeckte. Später ließ es zwischen uns nach, weil es eben auch für Sartre nicht die Bedeutung hatte. Obwohl wir noch 15 oder 20 Jahre lang auch sexuelle Kontakte hatten, spielte die Sexualität in unserer Beziehung in der Tat keine so große Rolle.“
Simone de Beauvoir stimmt mit Alice Schwarzer darin überein, dass sie ein Mensch ist, dem es fremd sei, seine Analysen auf sich selber anzuwenden. Sie mutet in diesen wie in anderen Gesprächen und Aussagen über ihre Beziehung zu Sartre oft naiv an – ihre Grausamkeit anderen Frauen und Männern gegenüber scheint sie sich kaum je bewusst gemacht zu haben.
Aber war sie wirklich so grausam? Ihr bedeutete Sartre mehr als jeder andere, warum sollte sie nicht dafür kämpfen – auf die ihr eigene und ihr mögliche Art – die tiefe Verbundenheit mit Sartre bis an sein Lebensende aufrechtzuerhalten?
Grausamkeit, Takt- und Gefühllosigkeit warf man ihr auch vor, als sie die langen Krankheitsjahre von Sartre, seinen langsamen körperlichen und teilweise auch geistigen Verfall so realistisch schilderte. Sartre litt schon früh, mit Anfang 50 unter zu hohem Blutdruck und dessen Folgen. Seine Krankheit rührte sicher auch daher, dass er oft hektisch arbeitete, nicht aufhörte, zahllose Zigaretten zu rauchen, gern und viel Alkohol trank. Um sich arbeitsmäßig auf dem Höhepunkt zu halten, nahm er außerdem schon morgens eine Menge Aufputschmittel, die leicht süchtig machen und dann in immer größeren Mengen genommen werden müssen. Um sich wieder zu beruhigen, brauchte er abends Schlafmittel, ohne die er schließlich glaubte, nicht ruhig schlafen zu können.
Trotz des hohen Blutdrucks und der für diese Art Krankheit katastrophalen Lebensweise, wurde er fast 75 Jahre alt. Und obwohl er fast vollständig erblindet war, machte er bis kurz vor seinem Lebensende zahlreiche Reisen, blieb heiter, nahm an den politischen Auseinandersetzungen seiner Zeit lebhaften Anteil, war trotz gelegentlicher geistiger und körperlicher Zusammenbrüche immer erneut ansprechbar und fähig, sich seinen Freunden gegenüber verständlich und geistreich zu artikulieren. In den hier veröffentlichten Gesprächen von 1974 werden sowohl seine Schwäche, sein gelegentliches Desinteresse, seine Gefühle der Leere, aber auch seine immer wiederkehrende geistige Präsenz und sein ans Herz rührendes Bedürfnis nach Aufrichtigkeit deutlich sichtbar.
Soll man einen solchen über viele Jahre sich erstreckenden Krankheitsprozess verschweigen? Warum eigentlich? Weil wir unsere Helden für immer als solche wahrnehmen wollen, nicht ertragen können, sie altern, an körperlichen und geistigen Krankheiten leiden zu sehen? Offenbar geschieht es auch gerade geistig intensiv arbeitenden, kreativen Menschen, dass ihr Gefäßsystem solchen Anstrengungen nicht gewachsen ist, dass es dekompensiert und Durchblutungsstörungen auch im Gehirn solcher Kranken die Folge ist.
Es mag einem beim Lesen dieses Buches manchmal das Herz brechen, wenn man die Leiden Sartres miterlebt und dennoch Zeuge seiner Geduld und – man kann nur das Wort gebrauchen – Ergebenheit ist, wie er sich in sein Schicksal fügt. Mir scheint die Art, wie Beauvoir davon berichtet, niemals taktlos zu sein. Vielmehr stellt sie sich der Realität eines solchen Krankheitsverlaufes und verleugnet weder Sartres noch ihre eigenen Leiden. Ihre Schilderungen vermitteln uns die Tragik des Alters, den Mut, mit dem der eigene Verfall sowohl wahrgenommen wie auch ertragen werden kann.
Ein schweres Schicksal für ein auf seine geistigen Fähigkeiten konzentriertes Leben, ein Schicksal, das viele befällt, jeden von uns befallen kann, ohne dass wir das Glück haben, bis ans Ende von Freundschaft und menschlicher Einfühlung umgeben zu sein. Es ist Simone de Beauvoir zu verdanken, dass sie uns mit der Wirklichkeit einer Alterstragödie konfrontiert, die gerade dadurch, dass sie nicht verleugnet wird, ihre Unerträglichkeit verliert und ihre menschliche Qualität behält.
Margarete Mitscherlich
Aus © EMMA 2/1983