Fremdenhass eine Männerkrankheit?

Margarete Mitscherlich über Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit, männliches Über-Ich und weibliches Mitläufertum

Antisemitismus ist nicht gleich Antisemitismus. Aber ist Antisemitismus immer eine Männerkrankheit? Der Antisemitismus hat sich im Laufe der Jahrhunderte verschiedener Inhalte bedient, wurde für unterschiedliche Zwecke benutzt und nahm vielfältige Formen an. Erst Ende des 18. Jahrhunderts, nach der französischen Revolution, hörte der klassische religiöse Antisemitismus auf und beendete damit für die Juden das Mittelalter.

Der hauptsächlich für politische Zwecke benutzte Antisemitismus begann etwa seit 1880 in Deutschland virulent zu werden. In diesem unglücklichen Zusammenhang machten sich der Hofprediger Adolph Stöckel und der Historiker Heinrich v. Treitschke einen Namen; von Treitschke stammt der Ausspruch: „Die Juden sind unser Unglück.“ Der moderne Antisemitismus, der sich unter Hitler vorwiegend rassistischer Argumente bediente, unterscheidet sich weitgehend vom religiösen Antisemitismus des Mittelalters.

Solange der Vorwurf, den man den Juden machte, religiösen Inhalt hatte, sie beschuldigt wurden, den Sohn Gottes getötet zu haben, konnten die Juden sich durch die christliche Taufe der Verfolgung entziehen. Der rassistische Antisemitismus läßt solche Möglichkeiten des Ausweichens nicht zu; hier liegt der „Fehler“ im Blut, in der Rasse, die es zu tilgen gilt. Das führte letztendlich zu Hitlers massenmörderischen Aktionen, zur „Endlösung“ der Judenfrage.

Rassen-Antisemitismus läßt sich jedoch nicht ohne weiteres mit Rassen-Diskriminierung an sich gleichsetzen, denn der Kampf gegen die Juden verbindet sich immer mit einem kulturellen Antisemitismus, das heißt die spezifische Kultur der Juden, wie sie sich von derjenigen des frei oder unfrei gewählten Heimat­landes unterscheidet, ihr Um­gang mit anderen Kulturen etc. wird verfolgt. In den Ländern der christlich-abendländischen Kul­tur waren sie oft Fremde auch deswegen, weil sie an ihrer Reli­gion, ihren Gebräuchen, ihrer Sprache festhielten, ihr Anders­sein betonten und dadurch Reli­gion, Sitten und Gebräuche ihrer christlichen Umgebung in deren Augen entwerteten. Gleichzeitig waren die in der Diaspora leben­den Juden Teil der Kultur des Landes, in dem sic lebten. Fremd sein, sich abzuschließen oder in Gettos eingeschlossen zu werden und doch eng mit der christlich-abendländischen Kul­tur verbunden zu sein, ließ ihnen

gegenüber einen Rassismus an­derer Art aufkommen als den gegenüber Menschen mit eindeutig fremden Kulturen, wie Negern, Mongolen, Slawen, ldianern etc.

Wie verhält sich aber der Anti­semitismus zur verbreiteten Aus­länderfeindlichkeit in der Bundesrepublik? Sind heute die Tür­ken unsere Juden von damals? Das scheint nur partiell der Fall zu sein, denn obwohl nur noch wenige Juden in Deutschland leben, hat das den Antisemitis­mus bei uns nicht aussterben las­sen. Das zeigen die häufigen Grabschändungen auf jüdischen Friedhöfen, das Bombenattentat auf ein jüdisches Restaurant in Berlin und manches mehr.

Die Juden, die heute in der Bun­desrepublik leben, sind nicht mehr die assimilierten Juden aus der Zeit vor Hitler. Die meisten stammen aus den östlichen Ge­bieten Europas, viele von ihnen sprechen nur gebrochen deutsch. Doch hat die Feindseligkeit bei­spielsweise den Türken gegen­über immer noch unterschied­liche Nuancen im Vergleich mit dem Antisemitismus. Die Tür­ken haben keine lange und kom­plizierte Geschichte mit den Deutschen wie die Juden. Den­ noch besteht auch die Grundlage jeden Ausländerhasses aus Pro­jektionen und Verschiebungen. Heute sind es oft die Türken, die an allem schuld sind: an der Ar­beitslosigkeit, der Wirtschaftsmisere, der Jugendkriminalität. Sie sind die Schwächsten im Lande, auf die man alles projizie­ren kann, wie den Haß auf die „Starken“, die eigenen Wertlo­sigkeitsgefühle, Schmutzlust etc. Auch oder gerade weil sie nicht ein Teil unserer Gesellschaft sind, fällt es leicht, sie als „Unge­ziefer“ zu betrachten. Natürlich spielt auch Neid und Eifersucht bei der Entwicklung einer Xeno­phobie eine wesentliche Rolle. Wut entsteht, wenn Ausländer sieh hier zu integrieren ver­suchen, dann sind sie nicht nur Konkurrenten auf dem Arbeits­markt, sie nehmen einem auch das Gefühl, allein hier zuhause zu sein. Frauen, die Gastarbeiter heiraten, werden fast immer, insbesondere von den Männern ihrer Familie oder ihres weiteren Umgangskreises diffamiert, während es eher hingenommen wird, wenn Männer eine auslän­dische Arbeitnehmerin heiraten. Das „Heidelberger Manifest“, das nur Männer unterschrieben haben, wurde in verschiedenen Zeitungen (z. B. Zeit vom 5. 2.82) abgedruckt. Es spricht von der großen Sorge über die „Unterwanderung des Deut­schen Volkes durch den Zuzug von vielen Millionen von Ausländern und ihren Familien, der Überfremdung unserer Sprache, unserer Kultur und unseres Volkstums“, viele Deutsche seien deswegen „Fremdlinge in der eigenen Heimat“ etc. Das sind Töne, die uns aus unserer jüngsten Vergangenheit nur allzu bekannt sind. Damals betrafen sie vor allem die Juden.

Die politischen Zwecke, denen der Antisemitismus diente, wie auch heute die Ausländerfeindlichkeit, sind weitgehend bekannt. Pogrome wurden Blitzableiter benutzt, wenn schlechte soziale oder ökonomische Bedingungen Veränderung erforderten, revolutionäre Impulse aber gedrosselt und auf andere abgelenkt werden sollten. Zu diesem Zweck wurden beispielsweise von der zaristischen Polizei die berüchtigten „Protokolle der Weisen von Zion“ erfunden, durch die antisemitische Pogrome im zaristischen Rußland eine Rechtfertigung finden sollten.

Daß Hetzschriften dazu dienen, von Mißständen abzulenken und Sündenböcke zu finden, kam kommt häufig vor. Obwohl bekannt ist, daß der Antisemitismus auch psychologisch eine Verschiebung darstellt, für die man Begründungen braucht, bleibt es verblüffend, daß diese Protokolle und ähnliche offensichtliche Fälschungen von vielen, auch gebildeten Menschen, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein geglaubt wurden.

Welche Schichten der Bevölkerung besonders anfällig für den Antisemitismus waren, wurde wiederholt dargestellt. Iring Fetscher stimmt mit Engels darin überein, daß der Antisemitismus vor allem eine Reaktion kleinbürgerlichen Schichten ist, die durch die industriell-kapitalistische Entwicklung dem Untergang geweiht schienen. Von ihnen wurden Juden mit dem Bank- und Börsenleben identifiziert, sie sahen im Juden einen konkreten Vertreter des ihnen meist unverständlichen, sie zerstörenden Kapitalismus.

Die politische Benutzung wie auch die psychologischen und ökonomischen Ursachen des Antisemitismus waren aber weit gefächert. Es ist etwas anderes, wenn ein jüdischer Professor, Arzt oder Rechtsanwalt von sei­nen Kollegen als Rivale erlebt und gehaßt wurde, als wenn ein Bauer den Juden als Geldverleiher haßte oder auch das Kleinbürgertum sich durch den Kapitalismus bedroht fühlte und diesen im Juden verfolgte.

Als Psychoanalytikerin liegt mir vor allem daran, die seelischen Motive für den Antisemitismus herauszuarbeiten. Es gibt nicht sehr viele Arbeiten, die sich mit der Psychologie des Antisemiten beschäftigen. Neben den Beiträ­gen in dem von Simmel herausgegebenen Buch „Antisemitism – A social disease“, ist Loewensteins „Christians and Jews“, erschienen 1951, weite­ren Kreisen bekannt geworden. 1960 hielt Fabian Schupper Vorlesungen am Berliner Psychoanalytischen Institut, die 1961 im Psychoanalytischen Jahrbuch zusammengefaßt wurden. 1962 fand in Wiesbaden ein Symposion „Die psychologischen und sozialen Voraussetzungen des Antisemitismus“ statt, das von Alexander Mitscherlich initiiert und eingeleitet wurde.

Schon Freud setzte sich in seinem berühmten Essay „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ mit dem religiösen Antisemitismus auseinander; er machte sich Gedanken über die psychologische Grundlage des immer wiederholten Vorwurfs der Christen an die Juden: „Mit Christus habt ihr unseren Gott getötet.“ Er sieht darin eine Ver­schiebung eigener vatermörde­rischer Wünsche auf den Juden. Auch seien Eifersucht und Ge­schwisterrivalität dem jüdischen Volk gegenüber, das sich als das erstgeborene und bevorzugte Kind Gottes ansah, im Antisemi­tismus unübersehbar. Die Be­schneidung der Juden wurde – so Freud – unbewußt als Kastration erlebt, was unheimlich war und Angst erregte, aber auch dazu diente, den Juden zu verachten. Die gleichen psychischen Ab­wehrmechanismen finden wir beim rassistischen Antisemitis­mus, der zudem noch ein Ab­wehrsystem gegen eigene Inzestwünsche und Selbstwert­störungen darstellt. Indem man die Juden als an sich schlecht und vernichtenswert deklarierte, konnte man alles Böse auf sie projizieren und seinen Neid gefühlen ihnen gegenüber freien Lauf lassen.

Mit Freud stimmen die meisten psychoanalytischen Autoren darin überein im Antisemitismus des einzelnen eine Folge ungelö­ster ödipaler Konflikte zu sehen. Sie beschränken sich bei ihren Untersuchungen allerdings auf die psychosexuelle Entwicklung des Mannes. Aufgrund welcher psychischen Konflikte Frauen zu Antisemiten werden, darauf wurde bisher weder in psycho­analytischen noch in soziologi­schen Untersuchungen näher eingegangen.

Projektion des eigenen Vaterhasses, Verschiebung der In­zestwünsche auf den Juden („Rassenschändung“), Rivali­tätsaggressionen etc., sind unbe­wußte psychische Motive für die Entwicklung des Antisemitis­mus, die vor allem für die männ­liche Psyche Gültigkeit haben. Die Entwicklung eines Antise­mitismus wird aber auch als Folge einer Über-Ich-Deformation angesehen. Denn das Über-Ich des Antisemiten entwickelt sich – so haben es Psychoanaly­tiker beobachtet – nicht mit Hilfe einer Verinnerlichung der mitmenschlichen Objekte und Beziehungen, sondern besteht mehr oder weniger aus Dressaten. Für ein solches Über-Ich, das nur äußere Verbote und Pflichten kennt, ist es vor allem die Macht, die ein einzelner oder auch ein Volk oder eine Gruppe besitzt, die zählt. Unterschiedliche moralische Inhalte und Werte spielen für einen Menschen dieser Art eine weit geringere Rolle. Eine Verinnerlichung der Ge- und Verbote des Vaters, mit deren Hilfe der ödipale Konflikt ein Ende findet, wenn sie in das eigene Ich aufgenommen und verarbeitet werden können, kommt nicht zustande. Vielmehr bleibt die Angst vor der Macht des Vaters in primitiver Weise bestehen und bestimmt das Verhalten des Antisemiten.

Einige Psychoanalytiker sehen im Antisemitismus auch eine Abwehr des unbewußten Hasses auf die allmächtige Mutter, deren angsterregende Aspekte dann der „unheimliche Jude“ verkörpert. Ihm kann man, wie das kleine Kind in seiner Ambivalenz zur Mutter, alle nur denkbaren negativen Fähigkeiten und schlimmen Eigenschaften zuschieben, ohne deswegen Angst oder Schuld zu fühlen, denn er gehört ja einer mehr oder weniger rechtlosen Minderheit an, die zu schwach ist, um sich rächen zu können und seit jeher als Sündenbock dient.

Wenn die psychoanalytischen Erkenntnisse zutreffen, daß Frauen nur selten durch Rivalitätsgefühle hervorgerufene vatermörderische Wünsche hegen, von Geschwisterrivalität dem erstgeborenen Sohn gegenüber nicht allzusehr geplagt sind, weniger unter Kastrations- und Inzestangst leiden als Männer, weiche abgewehrten Gefühle und Bedürfnisse sollten sie dann psychoanalytisch gesehen verschieben und projizieren, um zu Antisemiten zu werden?

Gemeinsam scheinen für beide Geschlechter die intensiven Gefühle eines untergründigen Hasses und Neides auf die allmächtige, als phallisch erlebte Mutter der frühen Kindheit zu sein, Ge­fühle, die später auf weniger ge­fährliche Sündenböcke verschoben werden können, um allzu große Ängste zu vermeiden. Hinzu kommt, daß auch Frauen Angst vor ihren inzestuösen Wünschen haben, da sie den Zorn der Mutter fürchten, und größte Angst haben, ihre Liebe zu verlieren.

Die Juden waren immer ein so­wohl nahes wie fremdes Element in der westlichen Kultur, von ihnen ging oft so etwas wie der Reiz des Verbotenen aus; sich mit ihnen einzulassen, war des­wegen für manche Frauen so ver­lockend und gleichzeitig angst­erregend, wie die inzestuösen Wünsche dem Vater gegenüber. Die Verdrängung solcher eige­nen Wünsche und deren Projek­tion mögen dann auch bei Frauen gelegentlich dazu beigetragen haben, den Juden als „Rassen­schänder“, als „unser Unglück“ zu diffamieren. Dennoch bleiben solche psychologischen Ver­suche, die Entwicklung antisemi­tischer Vorurteile bei Frauen zu verstehen, wenig überzeugend. Möglicherweise läßt sich der An­tisemitismus, sofern er von Frauen geteilt wird, eher mit der psychoanalytischen Struktur theorie als mit der Triebtheorie begreifen. Antisemiten, davon können uns die schon erwähnten psychoanalytischen Beobach­tungen überzeugen, haben ein erheblich gestörtes Über-Ich, das sich aber von dem – nach Freud-typisch „weiblichen“ Über-Ich unterscheidet. Das „schwache“ Über-Ich der Frau wird als Folge ihrer kaum vor­handenen Kastrationsangst an­gesehen, weswegen sie keine dem Mann entsprechende seeli­sche Nötigung erlebt, Verbote und Gebote der Eltern zu ver­innerlichen. Dieser Theorie ent­sprechend bleibt die Frau an der inzestuösen Beziehung zum Va­ter oder an der Haßliebe zur Mutter fixiert.

Der Antisemit hat aber, wie wir wissen, andere seelische Pro­bleme als nur die ungelösten Bindungen und Ambivalenzen den Eltern gegenüber. Ihn zeich­net vor allem seine Neigung zu groben Projektionen aus. Die seine Fähigkeit stört, die Realität entsprechend wahrnehmen zu können. Er ist seinen eigenen Triebbedürfnissen gegenüber unkritisch und blind. Wer die größte Macht ausstrahlt, wird von ihm als Ich-Ideal übernom­men.

Die abgewehrte Analität in Form von Zwängen odereines morali­schen Sadismus ist in unserer Kultur beim Mann ausgeprägter zu finden als bei der Frau. Frauen, so scheint es, können Schuldgefühle und eine gewisse Unordnung besser ertragen als Männer. Vor „law and order“-Fetischismus behütet sie ihr „schwaches“ Über-Ich. Des­wegen neigen sie auch weniger zur Verleugnung und Verdrän­gung ihrer Gefühle als Männer. Wenn also das mehr von der Angst vor Liebesverlust als von Kastrationsangst bedrängte Über-Ich der Frau anders geartet ist als das des Mannes und anders als das von analsadistischen Zü­gen geprägte Über-Ich des mas­siv projizierenden Antisemiten, wie ist es dann zu erklären, daß auch Frauen dem Antisemitis­mus verfallen sind?

Darauf eine psychologisch be­gründete Antwort zu finden, ist nicht leicht. Denn Antisemitismus ist zwar eine Männerkrank­heit, aber Frauen sind dagegen nicht immun. Wir wissen, daß Frauen dazu neigen, sich den Meinungsbildungen ihrer von Männern beherrschten Gesell­schaft anzupassen. Seit jeher übernahmen sie die politischen und sozialen Vorurteile ihrer Väter, Brüder und Männer. Dar­aus läßt sich schließen, daß Frauen weniger aufgrund eige­ner Ängste, psychischer Kon­flikte und Projektionen dem Antisemitismus verfallen, denn als Folge ihrer Identifikationen mit männlichen Vorurteilen. Diese Neigung sich anzupassen hängt wiederum mit ihrer allzu großen Angst vor Liebesverlust zusammen.

Filme aus dem Dritten Reich, die uns kürzlich die fast schon vergessenen Verhaltensweisen vieler Frauen dieser Zeit erneut präsentierten, erinnern uns daran, wie kritiklos Frauen ihre „Zweitrangigkeit“ akzeptierten und der „Moral“ und den perversen Idealen der Nazizeit begeistert zustimmten. Ergeben fügten sie sich den sich widersprechenden Anforderungen, die ihnen im Laufe des Dritten Reiches zugemutet wurden. Von der Rolle des Weibchens am Herd, die dem Führer Söhne gebaren sollte, bis zur BDM-Führerin, Munitionsarbeiterin oder gar KZ-Wächterin, waren allzu viele bereit, so ziemlich alles mitzumachen, was von ihnen gefordert wurde.

Entsprechend distanzierten sich auch nur wenige Frauen vom Antisemitismus jener Zeit, zumindest ist der Widerstand von Frauen gegen das öffentliche Meinungsdiktat der Nazis nur selten bekannt geworden. Frauen neigen natürlich dazu, wie alle Schwachen und Unterdrückten einer Gesellschaft, sich mit dem Aggressor zu identifizieren, sich seiner Meinung zu unterwerfen und sie zu teilen, auch oder gerade, weil sie dadurch selbst entwertet werden.

Von Psychoanalytikern wie von Philosophen und Literaten wurde der Frau eine standfeste Moral und die Fähigkeit zur Objektivität abgesprochen. Gern wurde dabei übersehen, daß es mit der Fähigkeit zu objektiver Urteilsbildung bei Männern nicht gerade allzu weit her ist. Männer mögen zwar im Vergleich zu Frauen besser gelernt haben, ihre Affekte zu isolieren und dadurch „objektiver“ zu scheinen. Das hängt mit den beim Mann häufiger auftretenden zwangsneurotischen Zügen zusammen, mit denen sich, um es zu wiederholen, eine Abwehr von Gefühlen überhaupt verbindet. Eine solche neurotische Tendenz als „Moral“ zu bezeichnen, ist offensichtlicher Unsinn.

In der psychoanalytischen Theorie wird also beim Mann die Kastrationsangst, bei der Frau die Angst vor Liebesverlust als das zentrale Erlebnismoment angesehen. Die Kastrationsangst, die sich auf die eigene Person und deren Zerstörung bezieht, kann man deswegen als narzißtisch be­zeichnen. wogegen bei der Angst vor Liebesverlust die Beziehung zu den mitmenschlichen Objek­ten von größter Bedeutung ist. Das wirkt sich auch auf die psy­chische Instanz, das Über-Ich. aus.

Die Entwicklung des Über-Ichs ist nicht mit der Entwicklung moralischer Fähigkeiten gleichzusetzen. Ein Über-Ich, das sich aus infantilen Ängsten und Schuldgefühlen, analsadistischen Impulsen und deren Abwehr zu­sammensetzt, ist eine irrationale, rigide und korrumpierbare In­stanz. Die größere Objektbezogenheit der Frau dagegen macht es ihr eher möglich, ein weniger rigides, weniger gefühlsabwehrendes Über-Ich aufzubauen und eine Moral zu entwickeln, die liebender und flexibler ist als die des Mannes.

Wenn es stimmt, daß Antise­mitismus vorwiegend eine Über-Ich-Krankheit ist, so hat sie in der Tat weit mehr mit der typischen Entwicklung des männlichen als mit derjenigen des weiblichen Über-Ichs zu tun. Die um das Geliebtwerden ban­gende Frau, ihre sich aus diesen Wünschen und Verinnerlichun­gen aufbauenden Über-Ich-Strukturen prädestinieren sie nicht zum Antisemitismus. Ihre Abhängigkeit von der Anerken­nung ihrer Umwelt, von den herrschenden männlichen Wert­orientierungen können sie aller­dings oft genug dazu bringen, gängige Vorurteile zu überneh­men.

Nur Frauen, die sich von der typisch männlichen Über-Ich- Krankheit befreien, eigene Wertsysteme entwickeln und verteidigen, werden dazu beitra­gen können, daß unmenschliche Vorurteilskrankheiten wie der Antisemitismus nicht mehr mög­lich sein werden. Mit der Stär­kung der Situation der Frauen in jeder Gesellschaft, würde die Herrschaft des rigiden, zwang­haften, narzißtischen, gefühls­abwehrenden Über-Ichs des Mannes an Einfluß verlieren und nicht mehr so prägend wirken.

Aus © EMMA 4/1982