Frigidität und Weiblichkeit

Die Frigidität der Frau lässt sich sowohl auf die frühkindliche Verarbeitung bestimmter Erlebnisse zurückführen, als auch auf die Art und Weise, mit der die jeweilige Gesellschaft mit der Frau und ihrer Sexualität umgehen.

Die Veränderung von weiblichen Verhaltensweisen und Weiblichkeits-Idealen im  Laufe der letzten 50 bis 60 Jahre ist offensichtlich, und ihre Abhängigkeit von gesellschaftlichen Verhältnissen und Vorurteilen läßt sich nicht mehr übersehen. Die Vorstellungen einer in psychobiologischen Reifungsphasen verlaufenden Entwicklung der Frau, die unabhängig von gesellschaftlichen Bedingungen ist, kann nicht mehr aufrechterhalten werden.

Seit Freud ist einiges passiert: die Kenntnisse der Psychoanalyse von der frühen Kindheit haben sich vertieft und beeinflussen die Theorien von der Entwicklung zur Weiblichkeit. Neben der psycho-sexuellen Entwicklungstheorie Freuds hat sich in der Psychoanalyse die Theorie der „Seperation-Individuation“ von Margaret Mahler und ihren Mitarbeitern durchgesetzt. Diese Theorie befaßt sich mit den frühen Beziehungen zur Mutter, deren Verinnerlichungen und der ersten Bildung eines eigenständigen Selbst.

Wenn auch mit zunehmender Reife die Abhängigkeit eines Menschen von seinen ersten Beziehungspersonen abnimmt, so bleibt doch das Selbstgefühl vieler noch im Erwachsenenalter von der Anerkennung anderer oft übermäßig abhängig. Das sei – so Freud – besonders bei der Frau der Fall. Sie leide typischerweise an erhöhter Angst vor Liebesverlust, an fehlender geistiger Eigenständigkeit und übermäßiger Anpassung an die Urteile anderer. Das wird auch heute noch von vielen als spezifisch weiblich angesehen.

In der Tat läßt sich eine übergroße Abhängigkeit vieler Frauen vom Urteil anderer, insbesondere von dem des Mannes, kaum übersehen. Nach Alice Schwarzer ist dies unter anderem auf die Sexualität zurückzuführen, die die Unterdrückung der Frau verewige.

In der Tat: äußerlich änderte sich die Szene zwar drastisch, bei näherer Betrachtung jedoch blieb im Grunde alles beim alten. Vor dem ersten Weltkrieg wurde der Frau als Zeichen ihrer Weiblichkeit sexuelle Unempfindlichkeit abverlangt, heute ist es das Gegenteil: nun ist es die Fähigkeit zum vaginalen Orgasmus, an der die weibliche Reife gemessen wird.

Indem die Frau sich auch diesem neuen Meinungsdiktat unterwarf, blieb sie trotz angeblicher sexueller Befreiung dem Mann und seinen Vorurteilen von der „wahren“ Weiblichkeit ausgeliefert. In manchem geht es ihr sogar schlechter als vorher. Denn die Frigidität der viktorianischen Frau war nichts, dessen sie sich schämen mußte, sie entsprach – wie die gesellschaftliche Ungleichheit der Frau – den tradierten Werten. Heute ist die Zahl der frigiden Frauen nicht kleiner, aber die Frau fühlt sich dadurch jetzt in ihrem Wertgefühl zutiefst beeinträchtigt, denn Gebot der Stunde ist nun die Orgasmusfähigkeit.

Auch wenn manche Frauen sich beruflich emanzipieren, bleiben sie in ihren sexuellen Beziehungen meist hilflos. Entweder schämen sie sich, ihre sexuellen Wünsche zu äußern, oder dem Mann fehlen Geduld und Einfühlungsfähigkeit, auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Lust muß oft vorgespielt werden, sonst kann die Frau der Verachtung des Mannes sicher sein.

Ein Beispiel soll die vielfältigen Motive anschaulich machen, die dazu führen, daß eine Frau sich in ihren sexuellen Verhaltensweisen den Forderungen ihrer männlichen Umgebung beugt und sich derer Idealen und Vorstellungen unkritisch und stumm anschließt.

Da ist Karin. Sie kommt in die Psychotherapie, weil sie an depressiven Verstimmungen leidet. Es stellt sich heraus, daß sie – obwohl verheiratet – zu mehreren Männern sexuelle Beziehungen unterhält. Auch ihr Mann hat seinerseits viele verschiedene Freundinnen. Häufig werden Beziehungen zu dritt eingegangen, das heißt, zwischen ihr, ihrem Mann und einer weiteren Frau. Bei genauer Betrachtung entdeckt man, daß sich hinter diesen lesbischen Beziehungen weniger wirkliches eigenes Interesse an Frauen, sondern oft nur Eifersucht verbirgt: Wenn sie ihrem Mann unerwartet in Begleitung einer anderen Frau begegnet, ist sie zwar nicht bewußt eifersüchtig, hat aber das zwanghafte Bedürfnis, diese Frau zu verführen.

Erst die Analyse läßt erkennen, woran das liegt: Sie schämt sich über nichts so sehr wie über Gefühle der Eifersucht. Sie erlebt sie als Ausdruck verpönter Besitzwünsche und muß sie deswegen um jeden Preis mit Hilfe von Gegenaktionen verleugnen. Sie weiß keine andere Möglichkeit, den Mann von seinen Freundinnen zu trennen, als den Versuch, diese für sich zu gewinnen.

Betrachten wir die Kindheitserlebnisse dieser Frau, stellt sich heraus, daß der Vater sich ähnlich verhielt wie der Ehemann. Er betrog die Mutter mit zahlreichen anderen Frauen, die Mutter wußte sich nicht dagegen zu wehren. Auch in der Familie ging der Vater mit seiner Sexualität recht exhibitionistisch und rücksichtslos um: Er vollzog den Verkehr mit seiner Frau oft geräuschvoll bei unverschlossener Tür, so daß die gelegentlich hereinstürmenden Kinder Zeugen wurden. Außerdem verführte der Vater eine im Hause lebende, etwas ältere Cousine.

Karin litt bereits als Kind sehr darunter, daß die von ihr geliebte Mutter sich von ihrem Mann so erniedrigen ließ. Sie wünschte noch in der Pubertät, daß die Mutter sich ganz ihr zuwenden möge. Gleichzeitig bewunderte sie dennoch den Vater wegen seiner großen beruflichen Erfolge und identifizierte sich mit ihm.

Beruflich wurde sie erfolgreich. Sie konnte sich durchsetzen. Sexuell aber war sie,  trotz aller scheinbaren sexuellen Freiheit, kaum weniger abhängig als einst ihre Mutter von der ihr aufgezwungen sexuellen Wünschen ihres Mannes und den in ihrer Gruppe herrschenden sexuellen Normen. Sie war, wie viele dieser als nymphoman imponierenden Frauen, frigide.

Ihr nymphomanes, pseudosexuelles Verhalten stellte im Grunde eine Abwertung ihrer selbst dar, bzw. war Ausdruck einer Störung ihres Selbstwertes. Es gelang ihr nicht, sich selber zu lieben und zu achten. Wir müssen annehmen, daß dieser Unfähigkeit die Identifikation mit der Mutter und deren gleichzeitige Verachtung zu Grunde liegt. Sie liebte die Mutter, aber sie konnte sie in ihrer selbstzerstörerischen Unterwürfigkeit dem Vater gegenüber nicht achten. Das Verhalten der Mutter hat Karin mit ihrer Heirat fortgesetzt. Es durfte ihr nicht besser gehen als der Mutter, da sie aufgrund ihrer Verachtung Schuldgefühle hatte und so büßte. Auch ist zu sagen, daß die frauenfeindlichen sexuellen Normen der Umwelt für die Tochter fundamental die gleichen sind, wie einst für die Mutter.

Der Vergleich mit dem Vater, der trotz aller Wut und Verachtung Karins in der Familie und vor allem bei der Mutter seine bevorzugte Stellung behielt, verstärkte ihren sekundären Penisneid. Das heißt, einen Neid, der kein primär biologischer ist, sondern ein ideologischer: einer auf die Privilegien, die dieses Organ in dieser Gesellschaft mit sich bringt, nicht auf das Organ selbst.

So geriet sie einerseits in dauernde berufliche Rivalität mit dem Ehemann, während sie sich andererseits sexuell unterwarf. Karins Verhalten war auch in hohem Maße geprägt von den Idealen und Forderungen der Gruppe, in der sie jetzt lebte. Sie hoffte, ihre sexuelle Anpassung an die Forderungen und Vorstellungen der Gruppe würden dazu beitragen, daß sie von der Gruppe – das heißt von den dort tonangebenden Männern mit denen sich auch die anderen Frauen bereitwillig identifizieren – akzeptiert würde.

Dadurch geriet sie in eine ausweglose Situation: indem sie auf die Zuwendung und Anerkennung der anderen nicht verzichten konnte, zerstörte sie ihre Selbstachtung. Je weniger sie sich aber selber achten konnte, um so mehr war sie auf die Anerkennung der anderen angewiesen. Die Folge: depressive Verstimmungen und Arbeitsstörungen.

Das ist ein Beispiel von vielen möglichen. Es zeigt die sozialen und psychologischen Hintergründe. Da nach den Forschungen von Masters und Johnson die Frigidität der Frau aber auch auf ihre Unkenntnis der eigenen Anatomie und Physiologie, also des eigenen Körpers, zurückzuführen ist und manche der Theorien Freuds über die weibliche Sexualität die wissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit widerspiegeln, möchte ich frühere und heutige Vorstellungen und Erkenntnisse über die Entstehung von Sexualität kurz zusammenfassen.

Freud nahm noch bei beiden Geschlechtern als Ursprung der sexuellen Bedürfnisse eine körperliche Erregungsquelle an. Der in der Samenblase durch die Produktion von Samenzellen entstehende Druck wurde als Ursache des sexuellen Reizes angesehen. Der Orgasmus war demnach die Folge der Entleerung und damit Entspannung der Samenblase und deren Wirkung auf das zugehörige Nervensystem. Diese „Ausscheidungstheorie“ ist alt und wurde auch von anderen Wissenschaftlern seiner Zeit vertreten, obwohl sie sich auf die Frau, die ja nichts zu entleeren hat, gar nicht anwenden ließ, galt sie für beide Geschlechter, das heißt: Frauen wurde somit Sexualität ganz abgesprochen!

Dieses „psychohydraulische“ Modell der Sexualität, die Triebsummierung und die Entspannung durch Entleerung, ist heute wissenschaftlich nicht mehr zu halten. Was physiologisch auf die Entstehung von Hunger und Durst und deren Befriedigung zutrifft, können wir auf die menschliche Sexualität nicht einfach übertragen. Bei ihr handelt es sich – so der Sexualforscher Schmidt – um eine „Disposition, auf bestimmte Reize in bestimmter Weise zu reagieren“.

Unstreitbar ist, daß die Fähigkeit zur sexuellen Erregbarkeit von mannigfachen bewußten und unbewußten, psychischen und physischen Reizen, Erfahrungen, Erlebnissen und Konfliktverarbeitungen abhängt. Würde es sich um ein einfaches Summieren triebenergetischer Kräfte handeln, die nach Abfuhr drängen, wäre die oft lebenslange Frigidität einer sonst gesunden Frau nicht zu erklären.

Auch über die Physiologie der Sexualität bei beiden Geschlechtern wissen wir heute mehr. Die Hormonforschung hat seit Freud große Fortschritte gemacht. Demnach wird der Einfluß der Sexualhormone auf die sexuelle Erregbarkeit sehr unterschiedlich bewertet. Die Aussagen der verschiedenen Forscher über die Wirkung der Hormone und über die Periodität der weiblichen sexuellen Aktivität sind unterschiedlich, ja oft sogar gegensätzlich!

Das zeigt uns, wie spekulativ solche Hormon-Theorien sind und wie individuell verschiedene Frauen reagieren. Und es ist ein weiterer Beweis dafür, daß die menschliche Sexualität nicht nur von biologischen Faktoren, sondern in hohem Maße von äußeren und inneren psychischen Einflüssen abhängig ist.

Die Frigidität der Frau läßt sich also sowohl auf die frühkindliche Verarbeitung bestimmter Erlebnisse zurückführen, als auch auf die Art und Weise, mit der die jeweilige Gesellschaft – und insbesondere der Mann – mit der Frau und ihrer Sexualität umgehen.

Aus: © EMMA 4/1977